Unter vielen Ärzten ist die Ansicht verbreitet, dass niedrige LDL-C-Werte unbedenklich seien. Doch jüngste Studienergebnisse stellen diese Annahme infrage. So scheinen LDL-C-Werte unter 70 mg/dl das Risiko für hämorrhagische Schlaganfälle zu erhöhen. Die zeigen nun auch neue Daten aus China.
Hämorrhagische Schlaganfälle sind nach ischämischen Schlaganfällen der zweithäufigste Grund für akute intrazerebralen Durchblutungsstörungen. Sie gehen mit einem erhöhten Sterberisiko und mitunter ausgeprägten neurologischen Defiziten einher. In Deutschland erleiden ca. 11 von 100.000 Menschen jährlich eine Gehirnblutung. Einige epidemiologische Studien haben einen möglichen Zusammenhang zwischen niedrigen bis sehr niedrigen Low-Density-Lipoprotein-Cholesterol (LDL-C)-Werten und dem Risiko für Gehirnblutungen entdeckt. In Anbetracht der Tatsache, dass die aktuellen Leitlinien der europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) LDL-C-Werte unter 70 mg/dl für bestimmte Patientengruppen empfehlen, sind diese Erkenntnisse umso relevanter. Zudem werden durch den Einsatz neuartiger lipidsenkender Therapien (z.B. PCSK9-Hemmer) auch immer häufiger extrem niedrige LDL-C-Werte unter 50 mg/dl erreicht. Besteht für diese Patienten womöglich eine Gefahr?
Um diese Frage zu klären, wurde in China im Raum Tangshan eine großangelegte prospektive Kohortenstudie durchgeführt. Ihr Vorteil zu vorherigen Studien: Eine größere Studienpopulation von über 96.000 Chinesen (81% Männer, Durchschnittsalter 51 Jahre) garantierte eine höhere Fallzahl von Gehirnblutungen. In früheren Studien waren die Fallzahlen dagegen eher gering, was die statistische Aussagekraft begrenzte. Zudem wurden die LDL-C-Werte alle 2 Jahre anstatt nur einmalig gemessen.
Alle Patienten waren zu Beginn der Studie frei von Herzinfarkt, Schlaganfall und Krebs und kehrten alle 6 Monate zur Follow-Up-Untersuchung zurück. Die Gesamtbeobachtungszeit lag bei 9 Jahren. Das Auftreten von hämorrhagischen Schlaganfällen im Beobachtungszeitraum wurde durch Zugriff auf elektronische Datenbanken und Patientenfragebögen erfasst. Am Ende der Studie wurden die LDL-C-Werte zu den hämorrhagischen Schlaganfällen in Beziehung gesetzt. Mögliche Confounder wie Alter, Geschlecht, Zigaretten- und Alkoholkonsum, Bildungstand, körperliche Aktivität, Haushaltseinkommen, Salzkonsum, Lipidprofil (außer LDL-C), Body Mass Index und medizinische Vorgeschichte wurden in den Modellen der Forscher berücksichtigt.
Insgesamt haben während der Studie 753 Studienteilnehmer (0,8% der Gesamtpopulation) eine Gehirnblutung erlitten, von denen 179 (24%) LDL-C-Werte unter 70 mg/dl hatten. Die Forscher konnten zeigen, dass Patienten mit einem LDL-C-Wert von 50 bis 69 mg/dl ein um 65% erhöhtes Risiko für einen hämorrhagischen Schlaganfall im Vergleich zu Patienten mit einem LDL-C-Wert zwischen 70 und 99 mg/dl aufwiesen. Das Risiko war noch ausgeprägter für Patienten mit extrem niedrigen LDL-C-Werten unter 50 mg/dl: Bei ihnen war die Wahrscheinlichkeit fast dreimal so hoch (Hazard Ratio: 2,69, 95% Konfidenzinterval: 2,03–3,57). Der Cutoff-Wert, ab dem das Risiko für einen hämorrhagischen Schlaganfall signifikant zunahm, war 76 mg/dl. Interessanterweise schützten höhere LDL-C-Werte (über 100 mg/dl) nicht vor Gehirnblutungen.
Die Ergebnisse waren identisch, nachdem bestimmte Patientengruppen (z.B. Patienten mit Bluthochdruck und Patienten, die Blutverdünner oder Lipidsenker einnahmen) von der Analyse ausgeschlossen wurden. Die Forscher haben auch untersucht, ob hohe oder niedrige High-Density-Lipoprotein-Cholesterol (HDL-C)- und Triglyceridwerte das Risiko für einen hämorrhagischen Schlaganfall ebenfalls beeinflussten. Hier fanden sich jedoch keine Zusammenhänge.
Die Daten der chinesischen Studie bestätigen eine Vielzahl anderer Untersuchungen, die auch in anderen Bevölkerungsgruppen einen Zusammenhang zwischen niedrigen LDL-C-Werten und Gehirnblutungen fanden – beispielsweise die jüngst von der Harvard Universität veröffentlichten Ergebnisse der Women’s Health Study mit rund 20.000 Probandinnen. Die Frage ist, ob niedrige LDL-C-Werte Gehirnblutungen direkt auslösen können oder ob ein anderer Mechanismus dahintersteckt. Rein physiologisch gesehen könnte LDL-C eine Rolle spielen, da Cholesterin ein unverzichtbarer Baustein der Zellmembran ist. Sehr niedrige Cholesterinwerte könnten eventuell zu "Lecks" in den Blutgefäßen führen oder auch die Erythrozyten beschädigen. Bewiesen ist das jedoch nicht.
Fraglich bleibt, wie sich die Ergebnisse der Studie auf den ärztlichen Alltag übertragen lassen. Die Autoren der Studie liefern leider keine Gebrauchsanleitung, mit der sich gefährdete Patienten identifizieren lassen. Und allen Patienten mit einem LDL-C-Wert unter 70 mg/dl die Lipidsenker wegzunehmen wäre ziemlich sicher nicht der richtige Weg. Denn die Zahl der Menschen, die einen ischämischen Schlaganfall erleiden (80–85% aller Schlaganfälle), ist immer noch weitaus größer als die Anzahl der Menschen, die an einer Gehirnblutung erkranken. Es gilt also, das kardiovaskuläre Risiko gegen das Blutungsrisiko abzuwägen. Konkrete Leitlinien, an denen sich Ärzte orientieren können, sind aktuell noch nicht zu erwarten. Schließlich gilt beim LDL-C oft noch das Motto: "The lower, the better" ("je niedriger, desto besser"). Doch diese Weisheit ist wohl überholt.
Quellen:
1. Ma C et al. Low-density lipoprotein cholesterol and risk of intracerebral hemorrhage. Neurology. 2019 Jul 2. pii: 10.1212/WNL.0000000000007853. doi: 10.1212/WNL.0000000000007853.
2. Rist PM et al. Lipid levels and the risk of hemorrhagic stroke among women. Neurology. 2019 May 7;92(19):e2286-e2294. doi: 10.1212/WNL.0000000000007454. Epub 2019 Apr 10.