Eine im Oktober in der Zeitschrift "Science" veröffentlichte Studie weckt Hoffnung: durch Anschalten eines einzelnen Faktors in körpereigenen Stammzellen des Ependyms ließ sich nach Verletzung eine erhebliche Neubildung von Oligodendrozyten generieren.
Die Regenerationsfähigkeit eines Gewebes nach Verletzungen hängt vom Potenzial der residenten Zellen ab, die geschädigten oder untergegangenen Zellen zu ersetzen. Haut oder Darm können dies dank Aktivierung gewebespezifischer Stammzellen sehr gut – Verletzungen des ZNS dagegen hinterlassen oftmals permanente Funktionsdefizite, da hierbei Neuronen, axonale Fortsätze und Oligodendrozyten zerstört werden und keine dieser Strukturen effizient ersetzt werden.
In Gehirn und Rückenmark, genauer: im Ependym, existieren zwar ruhende neuronale Stammzellen, die bei Schädigungen aktiviert werden, deren Beitrag zu Erneuerung oder Ersatz von Zellen ist jedoch insuffizient. Sie produzieren hauptsächlich narbenbildende Astrozyten, keine Nervenzellen und sehr wenige Oligodendrozyten.
Eines der Probleme nach Verletzungen des Rückenmarks ist der sekundäre Tod von Zellen um die betroffene Stelle herum, was zum Verlust, nicht nur von Neuronen, sondern auch Oligodendrozyten und der von ihnen produzierten Myelinscheiden führt, welche normalerweise die Axone isolieren und schützen. Die vom eigentlichen Trauma verschont gebliebenen Axone werden hierdurch freigelegt, ihrer trophischen und mechanischen Unterstützung beraubt und degenerieren (oder funktionieren zumindest nur noch defizitär).
Transplantationen neuronaler Stammzellen haben sich als vorteilhaft für die Heilung nach einer Rückenmarksverletzung erwiesen, da auf diese Weise vermehrt Oligodendrozyten bereitgestellt werden, die die entmarkten Axone remyelinisieren.
Die Autoren einer aktuellen Studie des Karolinska Institutet (Stockholm) wollten wissen, ob es nicht auch ohne Transplantation geht – mit den körpereigenen Stammzellen, die in der auskleidenden Schicht des Zentralkanals, dem Ependym, sitzen – denn diese Zellen haben die gleichen Vorläufer wie spinale Oligodendrozyten.1,2
Am Mausmodell entdeckten sie, dass in diesen Zellen ein latentes Potenzial für eine gesteigerte Bildung von Oligodendrozyten existiert. Latent bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das genetische Programm zur Entwicklung von Oligodendrozyten zugänglich ist, die Oligodendrozyten-Gene werden lediglich beim Erwachsenen nicht exprimiert.
Mittels multimodaler Einzelzellanalyse konnte das Team nachweisen, dass sich die neuronalen Stammzellen in einem permissiven Chromatin-Zustand befinden, der ein Entfalten des normalerweise latenten Genexpressionsprogramms zur Oligodendrogenese nach Verletzung erlauben würde. Die Chromatinregionen mit den Bindungsstellen für die Transkriptionsfaktoren OLIG2 und SOX10 waren zugänglich, obwohl die Transkriptionsfaktoren und deren Zielgene in Ependymzellen des Erwachsenen normalerweise nicht exprimiert werden. OLIG2 ist ein Transkriptionsfaktor, der die Oligodendrogenese initiiert.
Um zu untersuchen, ob dieses latente Potenzial neuronaler Stammzellen mit einer größeren Kapazität zur Bildung von Oligodendrozyten einhergeht, veränderten die Wissenschaftler Mäuse gentechnisch so, dass ihre Ependymzellen OLIG2 exprimierten. Dies führte nach Verletzung zu einer erhöhten Zugänglichkeit des latenten Programms und infolgedessen zur Expression von Genen für die Determinierung der oligodendrozytischen Zellidentität. Diese gezielte Aktivierung resultierte in einer Bildung myelinisierender Oligodendrozyten in Zahlen, die den durch Transplantation erreichten vergleichbar sind.
Das Anschalten des latenten Programms löste eine effiziente Oligodendrozyten-Produktion aus den ependymalen Zellen aus. Mittels aufwendiger Analysen (Single Cell RNA Sequencing) konnten die Forschenden zeigen, dass sodann in den neuen Zellen das Entwicklungsprogramm der Oligodendrozyten-Reifung abläuft, wobei auch sich selbst vermehrende Oligodendrozyten-Vorläuferzellen entstehen. Später reiften diese Zellen zu residenten myelinbildenden Oligodendrozyten heran und migrierten zu Orten der Demyelinisierung. Dort remyelinisierten sie Axone und optogenetische Tests zeigten, dass sich dadurch die Leitfähigkeit der Axone nach Verletzung wieder normalisierte.
Zwei Dinge sind dabei noch bemerkenswert: Die ependymale Oligodendrozyten-Produktion geschah parallel und nicht zulasten der astrozytären Narbenbildung (die für den Strukturerhalt ebenfalls wichtig ist). Außerdem erhöhte sich weder die Promoter-Zugänglichkeit, noch die Oligodendrozyten-Produktion in Abwesenheit eines Traumas. Dies lässt annehmen, dass noch weitere Faktoren als die OLIG2‑Expression nötig sind, um das latente Potenzial zu verwirklichen. Verletzungen induzieren eine Proliferation von Ependymzellen, was die Zugänglichkeit der DNA verändert.
Referenzen:
1. Llorens-Bobadilla, E. et al. A latent lineage potential in resident neural stem cells enables spinal cord repair. Science 370, (2020).
2. Becker, C. G. & Becker, T. Coaxing stem cells to repair the spinal cord. Science 370, 36–37 (2020).