Eine neue Entwicklung erlaubt es, durchtrennten Nerven eine mit Wachstumssignalen gespickte Führungsschiene anzubieten. Eine Füllung aus speziell aufgebautem gewebeähnlichen Gel enthält Komponenten, die zur Wiederherstellung des Nerven beitragen.
Schätzen Sie mal, wie viele periphere Nervenverletzungen es im Jahr 2017 in Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan zusammen gab (die Antwort finden Sie unten). Und wir kennen alle das Problem: diese hinterlassen oft bleibende Komplikationen, wie Schmerzen, sensomotorische Ausfälle oder Behinderung.
Einer optimalen Wiederherstellung steht häufig im Wege, dass sich Axone in durchtrennten Nerven nur schwer regenerieren und ihr Ziel erreichen können, was zum Teil auf fehlgeleitete Axone zurückzuführen ist, die in verschiedene Richtungen sprießen. Operative Wiederherstellungsverfahren versuchen, den durchtrennten Nerven wieder zusammenzunähen oder bei größeren Defekten per Nerventransplantat die Heilungsaussichten zu verbessern (bei letzterem entsteht wiederum ein Schaden an der Entnahmestelle der intakten Nervenstruktur, z. B. am Bein).
Wenn ein Nerv mit Axon und Hüllgeweben komplett durchtrennt wurde (Neurotmesis), fehlen den Nervenfasern die Leitstrukturen, um beim Wiederauswachsen ihren Weg zu finden. Es gibt heute die Möglichkeit, solche Defekte zu "schienen", den Axonen also mittels eines synthetischen hohlen Nervenkanals eine Orientierung und Stütze zu geben. Diese Steuerungsanweisungen müssen jedoch über längere Zeit im Körper verbleiben, denn Axone wachsen mit ungefähr 1 mm/ Tag. Da Nervenfasern sehr lang sein können, müssen die neu wachsenden Nervenfasern abhängig von der Höhe der Verletzung bis zum Ziel (z. B. ein Muskel) teils große Distanzen zurücklegen. Ein Beispiel: Ein Nervenabschnitt von 30 cm würde also ungefähr fast ein Jahr bis zur vollständigen Regeneration benötigen.1
Forscher der Bar-Ilan Universität Tel-Aviv haben mit intelligentem Gel gefüllte Nervenleitschienen entwickelt, die die Regeneration von gerissenen Nervenfasern beschleunigen. Dieses Gel enthält eine Reihe physikalischer und chemischer Komponenten, die das Nachwachsen der Axone fördern und koordinieren.2,3
Der erste spannende Unterschied zu bisherigen Lösungen: spezifisch ausgerichtete Kollagenfasern helfen im Körper normalerweise den Axonen, ihren Weg zu finden, aber in bisherigen hohlen Führungsschienen fehlten diese. Die Forscher entwickelten ein speziell strukturiertes Kollagengel, welches als Gerüst für die Nervenzellfortsätze dient und ihr Wachstum lenkt. Damit nicht genug: diese Leitungsführungen enthalten entlang des Weges auch noch "Bewirtung" für die Axone: NGF (nerve growth factor).
Prof. Orit Shefi, Leiterin des Labors für Neuroengineering und Regeneration, erklärt: "Ein Axon, welches das Gel erreicht, folgt diesen Wachstumssignalen und findet dadurch leichter die richtige Richtung. [...] Axone wachsen bevorzugt in Richtung dieser Marker, die für sie hinterlassen werden können."
Würde man hohlen Nervenkanälen jedoch einfach nur so Kollagen und NGF als "Lockmittel" zusetzen, würden diese abgebaut oder von verschiedenen Zellen konsumiert werden. Um die Verfügbarkeit dieser Faktoren für die Axone zu verlängern und um die Partikel und Kollagenfasern auszurichten, integrierten die Wissenschaftler NGF-beschichtete magnetische Partikel, die durch magnetische Fernbetätigung eine hochgradig ausgerichtete fibrilläre Gelstruktur bilden.
Nachdem die neue Technologie das Nervenzellwachstum in vitro lenken und beschleunigen konnte, untersuchten die Entwickler die Wirksamkeit in der Rehabilitation von Ratten mit einer Nervenverletzung am Ischiasnerv, die ihre Fähigkeit zu laufen beeinträchtigte.
Die Anzahl der Axone, die das neuartige, mit dem biokompatiblen Gel gefüllte Röhrchen passierten und den verletzten Bereich erfolgreich durchquerten, war größer als bei einem leeren Röhrchen, und dementsprechend war die Wiederherstellung des Nervengewebes am höchsten. Auch die funktionelle motorische Wiederherstellung war mit der neuen Methode am besten, im Vergleich zur Verwendung anderer Arten von Nervenleitschienen und im Vergleich zu Röhrchen mit nicht angereichertem Gel.
Die Forscher untersuchen nun die Möglichkeiten einer Kommerzialisierung und hoffen, dass ihre Entwicklung zur funktionellen Regeneration und zur Beschleunigung der Nervenreparatur nach einer Verletzung beitragen wird.
Auflösung: Im Jahr 2017 gab es insgesamt 3,89 Mio. periphere Nervenverletzungen in Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan.4
Referenzen:
1. EvB Klinikum - Nervenverletzungen.
2. Repairing Peripheral Nerve Injuries.
3. Antman-Passig, M. et al. Magnetic Assembly of a Multifunctional Guidance Conduit for Peripheral Nerve Repair. Advanced Functional Materials 31, 2010837 (2021).
4. Peripheral Nerve Injuries Epidemiology Forecast Report 2017-2030 - Focus on United States, Germany, France, Italy, Spain, United Kingdom, and Japan - ResearchAndMarkets.com.