esanum: Herr Prof. Dr. Löwe, das Motto des Deutschen Kongresses für psychosomatische Medizin und Psychotherapie lautet in diesem Jahr "Beziehungen in der Krise, Aufbrüche". Können Sie erläutern, was genau damit gemeint ist?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: In unserer heutigen Zeit erleben wir, dass Beziehungen auf verschiedensten Ebenen immer schwieriger werden oder gar in die Krise geraten. Auf individueller Ebene beobachten wir, dass sich Beziehungen verändern und oft eher digital stattfinden, was zu Vereinsamung führen kann. Diese Problematik erstreckt sich auch auf die Gesellschaft und internationale Beziehungen, bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Auch im Wissenschaftssystem zeichnen sich Veränderungen ab, etwa in der Beziehung zur Wissenschaft und deren Förderung, besonders wenn wir die aktuelle Lage in den USA betrachten. Gleichzeitig bieten Krisen auch Chancen für einen Neuanfang oder eine Neudefinition von Beziehungen. In der Psychosomatik geht es um das Wechselspiel zwischen Körper und Psyche, eine Beziehung, die manchmal ebenfalls krisenhaft sein kann, etwa wenn psychische Signale übersehen oder überinterpretiert werden.
esanum: Vereinsamung und Isolation sind besonders bei Jugendlichen zunehmend Thema. Welche medizinischen Konsequenzen ergeben sich daraus?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Die Anerkennung dieses Phänomens ist der erste Schritt. Auf gesellschaftlicher Ebene sollten wir Räume schaffen, die Einsamkeit entgegenwirken und Begegnungen fördern. Medizinisch gesehen ist Einsamkeit ein ähnlich relevanter Risikofaktor für gesundheitliche Beschwerden und eine verkürzte Lebenserwartung wie Rauchen. Umgekehrt ist soziale Unterstützung mit höherer Lebensqualität und Lebenserwartung verbunden. Besonders bei psychosomatischen Beschwerden ist die soziale Einbindung der Patientinnen und Patienten ein entscheidendes Element für deren Behandlung und Genesung.
esanum: Welche Bedeutung messen Sie auf dem Kongress der positiven Kraft von vertrauensvollen Beziehungen und sozialem Zusammenhalt bei?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Wir haben Referentinnen und Referenten eingeladen, die diese Themen vertiefen werden. So wird Dr. Johanna Degen über die Veränderungen in Beziehungen und die Rolle der digitalen Welt sprechen, die sowohl Chancen als auch Risiken birgt. In Satelliten-Symposien beleuchten wir auch die Zusammenarbeit zwischen Psychosomatik und Allgemeinmedizin. Beziehungen, Einsamkeit und soziale Unterstützung sind zentrale Themen sowohl in der Psychotherapie als auch in der Psychosomatik, und das wollen wir abbilden.
esanum: Die Verknüpfung von Psychosomatik und Allgemeinmedizin ist ein wichtiges Thema. Sehen Sie hier Handlungsbedarf?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Absolut, und mir ist es wichtig zu betonen, dass psychosomatische Medizin und Psychotherapie Teil der Schulmedizin sind. Psychosomatik ist integraler Bestandteil aller medizinischen Fachgebiete. Unser Ziel ist es, die Vernetzung mit allen Fachbereichen zu stärken. Besonders die Allgemeinmedizin leistet als erster Anlaufpunkt für viele Betroffene sehr wertvolle Arbeit. Wir kümmern uns dann um die komplexeren Fälle. In der Ausbildung hat die psychosomatische Grundversorgung schon einen festen Platz gefunden, aber es gibt noch viel zu tun.
esanum: Neue Entwicklungen in der ICD-Klassifikation stellen eine Wende dar. Was bedeutet das konkret?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Die neue ICD-Klassifikation beschreibt nicht mehr somatoforme Störungen, sondern spricht von somatischen Belastungsstörungen. Dabei werden positive psychologische Kriterien herangezogen, etwa wie stark Betroffene unter ihren körperlichen Beschwerden leiden und wie sehr ihr Alltag davon beeinflusst wird. Diese Diagnose kann parallel zu körperlichen Erkrankungen gestellt werden, was eine umfassendere Behandlung ermöglicht.
esanum: Worin bestehen die Herausforderungen, die psychosomatischen Komponenten präzise zu diagnostizieren?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Der Schlüssel liegt in einer präzisen Anamnese und Befragung. Es geht beispielsweise darum zu ermitteln, wie intensiv sich jemand mit seinen Beschwerden beschäftigt. Die individuelle Wahrnehmung steht dabei immer im Mittelpunkt. Wir können relativ genau erfassen, wie stark jemand durch seine Beschwerden in seinem Alltag eingeschränkt wird.
esanum: Ein weiteres Thema ist die sogenannte Beziehungsmedizin. Was genau versteht man darunter?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Beziehungsmedizin ist besonders wichtig in der Psychotherapie, wo die Beziehung zwischen Patient und Therapeut eine zentrale Rolle spielt. Auch bei chronischen Erkrankungen ist die Beziehung zum Behandler entscheidend für den Heilungsprozess und die Lebensqualität der Betroffenen. Vertrauensvolle Beziehungen führen oft zu besseren Behandlungsergebnissen.
esanum: In einem durch Zeitdruck geprägten Gesundheitssystem klingt das idealistisch, oder?
Prof. Dr. med. Bernd Löwe: Natürlich erfordert es Einsatz, aber eine gute Beziehung zu Patientinnen und Patienten spart letztlich Zeit. Verlässliche Kommunikation reduziert Rückfragen und vermeidet das "Herumirren" der Patienten im System. Beziehungen sind gebündelte Zeit und Energie, die sich auf lange Sicht auszahlen.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Bernd Löwe ist spezialisiert auf psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Innere Medizin und arbeitet als psychologischer Psychotherapeut. Er leitet die Klinik und Poliklinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und fungiert als Präsident des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM).