Psychiatrische und somatische Nebenwirkungen von Cannabinoiden

Der Konsum von Cannabis nimmt weltweit zu. Aber hochpotente synthetische Cannabinoide können mit verschiedenen psychiatrischen und körperlichen Störungen einhergehen.

Daten aus Notaufnahmen

Die Toxizität und das Risiko für psychiatrische und somatische Störungen sind bei synthetischen Cannabinoiden im Allgemeinen größer als bei Produkten aus Cannabis (insbes. Cannabis sativa), erklärt Dr. Maximilian Gahr von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm in einer aktuellen Publikation in der Zeitschrift Nervenheilkunde.2 Verunreinigungen (Pilze, Bakterien, Schwermetalle) sowie die stärkere Bindungsaffinität synthetischer Cannabinoide zum Cannabinoid-Rezeptor 1 scheinen hierbei eine Rolle zu spielen.

Gahr skizziert einige Beschwerdebilder, die Ärzten beispielsweise in der Versorgung von Patienten in der Notaufnahme begegnen könnten und für die man Cannabinoidkonsum bzw. Cannabinoidintoxikationen als Differenzialdiagnose im Hinterkopf haben sollte. Laut einer Analyse von Daten aus europäischen Notaufnahmen war Angst (28 Prozent) die häufigste Nebenwirkung im Zusammenhang mit dem Konsum; gefolgt von Erbrechen, Agitation, subjektiv empfundenem Herzrasen, Brustschmerz, Bewusstseinsstörungen, akuten Psychosen und Halluzinationen.

Welche Nebenwirkungen, Intoxikationen und Entzugssyndrome sind möglich?

Die Cannabispflanze enthält drei Gruppen von Bestandteilen: Terpene, Flavonoide und Cannabinoide. Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) sind die beiden am häufigsten vorkommenden Cannabinoide. Für THC, den primären psychoaktiven Inhaltsstoff, ist ein therapeutischer Nutzen bei Schmerzen, Übelkeit und Schlaf gezeigt.CBD ist in medizinisch relevanten Dosen nicht toxisch und kann in Kombination mit THC dessen psychoaktive Wirkung ausgleichen sowie die THC-Toleranz erhöhen. Cannabidiol hat entzündungshemmende, neuroprotektive, antipsychotische, anxiolytische und antidepressive Eigenschaften.4,5

Als relevanteste akute psychiatrische Störungen durch Cannabinoidkonsum nennt Gahr Intoxikationen. Sie verlaufen zumeist klinisch mild und erfordern oft keine spezifische Therapie, können sich jedoch zuweilen als akutes Delir oder Psychose (evtl. mit Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten) manifestieren.2

THC aktiviert die Cannabinoid-Rezeptoren 1 und 2, was unter anderem zu einer Stimulation des Sympathikus und einer Dämpfung des Parasympathikus führt. Hieraus können sich zum einen neuropsychiatrische Nebenwirkungen ergeben, wie beeinträchtigte Kognition, Sedierung, Affektstörungen (Angst, Euphorie) und Wahrnehmungsstörungen (bis hin zu Psychosen, Paranoia, Halluzinationen, Ich-Erlebnisstörungen). Zum anderen können körperliche Begleiterscheinungen auftreten, wie Mundtrockenheit, Appetitsteigerung, Tachykardie, Luftnot, konjunktivale Injektion, Miosis, Sehstörungen, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen.2,6

Akute neuropsychiatrische Symptome können auch Ausdruck eines Entzugssyndroms sein, das in der Regel leicht und nicht stationär behandlungsbedürftig ist. Gahr nimmt auch hier die Differenzierung vor: Im Rahmen einer Abhängigkeit von synthetischen Cannabinoiden sind Entzugssyndrome tendenziell schwerer ausgeprägt als bei Produkten aus Cannabis (insbesondere Cannabis sativa).2

Chronischer Konsum stellt vor allem bei Jugendlichen ein zunehmendes Problem dar

Eigenanamnestischen Daten aus dem Jahr 2021 zufolge konsumierten 1,6 Prozent der 12- bis 17-Jährigen und 8,6 Prozent der 18- bis 25-Jährigen in den letzten zwölf Monaten regelmäßig (häufiger als zehnmal) Cannabis. Ergebnisse der epidemiologischen Suchtsurvey von 2021 deuteten darauf hin, dass bei jedem vierten Cannabis-Konsumenten ein problematischer Konsum besteht.7 Chronischer Konsum ist bei Jugendlichen mit dem Risiko für die Entwicklung struktureller Hirnveränderungen (verminderte Dicke des rechten und linken präfrontalen Kortex) sowie persistierender kognitiver Beeinträchtigungen (Aufmerksamkeitsstörung) verbunden.8

Es gibt außerdem Signale aus verschiedenen Studien, so Gahr, dass insbesondere der chronische Konsum von Cannabinoiden mit einem erhöhten Risiko für Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten assoziiert ist. Dies war wiederum vor allem für synthetische Cannabinoide und insbesondere bei Jugendlichen evident.2 Weitere Studien sind hier nötig, da viele Untersuchungen keine Rückschlüsse darauf zulassen, ob der Cannabinoidkonsum kausal ursächlich war oder ob vermittelnde Faktoren vorlagen, die sowohl zu selbstverletzendem Verhalten als auch zu Cannabinoidabusus prädisponierten. 

Sowohl das Rauchen als auch Dampfen von Cannabis kann zudem respiratorische Pathologien nach sich ziehen, die sich von denen des Tabakrauchens unterscheiden.

Was sind medizinische Notfälle im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Cannabinoiden?

Zu den möglichen somatischen Notfällen gehört das Cannabis-Hyperemesis-Syndrom (CHS), welches sich in rezidivierenden schweren Anfällen von Übelkeit und Erbrechen mit abdominellen Schmerzen äußert. Es ist selten und entwickelt sich nur bei täglichen Langzeitkonsumenten von Marihuana. Ein CHS ist somit eine wichtige Differenzialdiagnose bei anhaltendem nicht erklärtem Erbrechen.

Gahr betont weiterhin, dass synthetische Cannabinoide eine deutlich größere kardiovaskuläre Toxizität als Produkte aus Cannabis (insbes. Cannnabis sativa) aufweisen. Ihr chronischer Gebrauch geht mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für kardio- und neurovaskuläre Erkrankungen wie Myokardinfarkt, Herzrhythmusstörungen (Vorhof- und Kammerflimmern) und periphere arterielle Durchblutungsstörungen einher, mit dem potenziellen Risiko für plötzlichen Herztod und Apoplex. Auch prokonvulsive Effekte sind beschrieben.2

Die meisten Konsumenten sind junge, gesunde Männer ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren; es ist jedoch zu erwarten, dass sich die Patientenpopulation in Zukunft auch auf ältere Personen ausweiten wird, bei denen bereits altersbedingt ein höheres kardiovaskuläres Risiko zu beachten ist.1

Kontextfaktoren müssen berücksichtigt werden

Eine gepoolte Analyse von Daten aus 46 RCTs mit 6.216 Patienten (Durchschnittsalter 59 Jahre) kam zu dem Schluss, dass THC-haltige Arzneimittel zwar mit einigen Nebenwirkungen verbunden sind, cannabishaltige Arzneimittel bei Erwachsenen über 50 Jahren im Allgemeinen aber sicher sind.9 Zu noch älteren Erwachsenen (über 65 Jahren) lagen jedoch keine ausreichenden Daten vor.

Die Inzidenz von Nebenwirkungen war unter THC-haltigen Präparaten gegenüber der Kontrollgruppe größer, jedoch wurde für keines der Präparate eine Zunahme von schwerwiegenden Nebenwirkungen oder Todesfällen berichtet. CBD allein ging nicht mit erhöhten Nebenwirkungsraten einher. Das Risiko eines Studienabbruchs war nur bei denjenigen erhöht, die eine THC/CBD-Kombinationsbehandlung erhielten, und dies hing mit der THC-Dosis zusammen.

Letztere Auswertung betrachtete den medizinisch veranlassten Einsatz (meist Krebs und chronische Schmerzen) von cannabishaltigen Arzneimitteln in einer streng regulierten Umgebung. Gahr zitiert andere Arbeiten, die weitere Settings abdeckten und die auf mögliche Zusammenhänge zwischen dem Konsum und häufigeren plötzlichen Todesfällen hindeuten. Dies bezog sich wiederum primär auf synthetische Cannabinoide (Genrenamen: Bombay Blue, Black Mamba, K2, Spice etc.). Todesfälle infolge von Multiorganversagen nach Intoxikation oder auch Suizid seien in den letzten Jahren angestiegen. Bei Gebrauch von „natürlichem“ Cannabis sind letale Komplikationen deutlich seltener.2,6
 

Quelle:
  1. Latif, Z. & Garg, N. The Impact of Marijuana on the Cardiovascular System: A Review of the Most Common Cardiovascular Events Associated with Marijuana Use. Journal of Clinical Medicine 9, 1925 (2020).
  2. Gahr, M. Akute psychiatrische Störungsbilder. Nervenheilkunde 42: 200-206 (2023).
  3. National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, Health and Medicine Division, Board on Population Health and Public Health Practice, & Committee on the Health Effects of Marijuana: An Evidence Review and Research Agenda. The Health Effects of Cannabis and Cannabinoids: The Current State of Evidence and Recommendations for Research. (National Academies Press (US), 2017).
  4. Bar-Lev Schleider, L., Mechoulam, R., Sikorin, I., Naftali, T. & Novack, V. Adherence, Safety, and Effectiveness of Medical Cannabis and Epidemiological Characteristics of the Patient Population: A Prospective Study. Frontiers in Medicine 9, (2022).
  5. Fernández-Ruiz, J. et al. Cannabidiol for neurodegenerative disorders: important new clinical applications for this phytocannabinoid? Br J Clin Pharmacol 75, 323–333 (2013).
  6. Meinrenken, D. S. Kardiale Notfälle oder akute Psychosen als Nebenwirkung von Cannabinoiden.
  7. Cannabis.
  8. Albaugh, M. D. et al. Association of Cannabis Use During Adolescence With Neurodevelopment. JAMA Psychiatry 78, 1–11 (2021).
  9. Velayudhan, L., McGoohan, K. & Bhattacharyya, S. Safety and tolerability of natural and synthetic cannabinoids in adults aged over 50 years: A systematic review and meta-analysis. PLOS Medicine 18, e1003524 (2021).

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