Teams in Videokonferenzen sind weniger kreativ als in persönlichen Treffen

Videokonferenzen haben Teammitglieder aus weit entfernt liegenden Standorten zusammenrücken lassen und die Kommunikation revolutioniert. Eine aktuelle Studie in der 'Nature' zeigt jedoch ein Manko der virtuellen Kommunikation auf.

Online-Meetings im Überblick

Wie wirken sich Videokonferenzen auf die Kreativität aus?

Eine aktuell in der Zeitschrift 'Nature' veröffentlichte Studie1 gelangt zu dem Ergebnis, dass sich virtuelle Gruppen bei der Entwicklung von Ideen (brainstorming) schwerer tun. Warum ist das so und warum werden Video-Meetings und virtuelle Kongresse oft als so anstrengend empfunden?

Das Team verglich die Art und Anzahl der hervorgebrachten neuen Ideen von Menschen, die entweder online oder persönlich zusammenarbeiteten. Eine Laborstudie und ein Feldversuch in fünf Ländern (in Europa, dem Nahen Osten und Südasien) mit 1.490 Untersuchten ergab, dass virtuelle Begegnungen in weniger Ideen und Kreativität mündeten als persönliche Interaktionen, unter anderem weil der visuelle Fokus kleiner ist (auf den Bildschirm gerichtet statt im Raum orientiert). Dies gelte für zufällig zusammengeführte wie für etablierte Teams gleichermaßen. Die Gruppen, die real zusammensaßen, hatten nicht nur mehr, sondern auch die originelleren Einfälle. Im Gegensatz dazu war kein Nachteil für die Videokonferenzen messbar, wenn es lediglich darum ging, aus bereits vorhandenen Ideen die zu verfolgende auszuwählen.

Viele Unterschiede zu Treffen "live und in Farbe"

Jim St Leger, Director Open Source bei Intel twitterte dazu: "Persönliche Treffen sind für die Ideenbildung besser als virtuelle. Aber das wussten Sie ja schon. Der Grund dafür scheint zu sein, dass sich die virtuellen Teilnehmer zu sehr auf den Bildschirm konzentrieren.2 Er bestärkt den Vorschlag aus der Publikation, dass es vielleicht an der Zeit ist, die Kamera auszuschalten, wenn es um die Erarbeitung einfallsreicher Lösungen geht.3 Denn es ist gerade die Generierung neuer Ideen und kreativer Lösungen, welche in der Wissenschaft für Innovationen und Fortschritt so wichtig sind.

Ein so großer Teil unserer kognitiven Ressourcen wird durch die fortlaufende visuelle Verarbeitung der Gesichter der anderen Menschen beansprucht, dass es eine Herausforderung für kreatives Denken während Video-Meetings darstellt, meint die Forschungsgruppe (etwa so, als würden Sie versuchen, ein differenziertes Gespräch zu führen und zugleich etwas thematisch abweichendes zu lesen). Noch dazu ist die Kommunikation über Videokonferenzen immer erratisch: wir verbringen zwar mehr Zeit damit, die anderen anzuschauen, weil wir instinktiv den für die Kommunikation zentralen Blickkontakt herstellen wollen, genau dieser ist über die Webcam aber nicht möglich. 

Neuronale Integration zwischen dem okulomotorischen und dem Gedächtnissystem

Es gibt noch etliche weitere Aspekte, die zu einer schlechteren Ideengenerierung im Setting von Videokonferenzen beitragen. Einer davon könnte mit sog. nicht visuellen Augenbewegungen zu tun haben. Damit sind jene sakkadischen Augenbewegungen gemeint, die Menschen beim Denken ausführen. Vieles deutet darauf hin, dass solche Augenbewegungen systematisch mit internen Denkprozessen verbunden sind.4 Im Durchschnitt bewegen Menschen ihre Augen etwa doppelt so oft, wenn sie das Langzeitgedächtnis durchsuchen, wie bei Aufgaben, die eine solches "Scannen" nicht erfordern. Da diese Augenbewegungen gleichermaßen zu beobachten sind, wenn Menschen sich Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sich im Dunkeln befinden oder wenn sie ihre Augen geschlossen haben, scheinen sie nicht der visuellen Verarbeitung zu dienen, daher die Bezeichnung "nicht visuelle" Augenbewegungen. 

Nach heutigem Verständnis unterstützen Augenbewegungen die Kodierung von Gedächtnisinhalten, indem sie verschiedene Elemente der visuellen Welt zu kohärenten Repräsentationen verbinden. Etliche Arbeiten kommen zu dem Schluss, dass Augenbewegungen umgekehrt auch beim Abruf solcher Inhalte eine Rolle spielen, indem sie den Kontext der Kodierung wiederherstellen. Ein an der oben genannten Arbeit nicht beteiligtes Forschungsteam führt aus: "Indem [nicht visuelle Augenbewegungen] die Aufmerksamkeit offenkundig in einer Weise verlagern, die die räumliche Lage und die zeitliche Abfolge der kodierten Inhalte weitgehend rekapituliert, erleichtern Augenbewegungen den Zugang zu und die Reaktivierung von damit verbundenen Details. Eine solche mnemotechnische Wiederholung der Blickbewegungen kann zwingend erforderlich sein, wenn die Anforderungen der Aufgabe die kognitiven Ressourcen übersteigen".5

Stark vereinfacht lässt sich festhalten, dass nicht visuelle Augenbewegungen nach oben in erster Linie stattfinden, wenn kognitive Informationen abgerufen werden und nach unten, wenn emotionsbezogene Informationen abgerufen werden. Dies könnte ein weiterer Grund dafür, dass wir am Bildschirm, der meist blickabwärts steht (insbesondere Laptops und Tablets), im kognitiven Bereich nicht so unterstützt sind, dass die Ideen nur so fließen.

Referenzen:
  1. Brucks, M. S. & Levav, J. Virtual communication curbs creative idea generation. Nature 605, 108–112 (2022).
  2. Jim St. Leger auf LinkedIn: Virtual communication curbs creative idea generation - Nature. https://www.linkedin.com/posts/jimstleger_virtual-communication-curbs-creative-idea-activity-6934679706520756224-d14X.
  3. Petrić Howe, N. & Thompson, B. How virtual meetings can limit creative ideas. Nature (2022) doi:10.1038/d41586-022-01197-x.
  4. Ehrlichman, H. & Micic, D. Why Do People Move Their Eyes When They Think? Curr Dir Psychol Sci 21, 96–100 (2012).
  5. Wynn, J. S., Shen, K. & Ryan, J. D. Eye Movements Actively Reinstate Spatiotemporal Mnemonic Content. Vision 3, 21 (2019).

    letzter Zugriff auf Websites: 06.06.2022