esanum: Die elektronische Patientenakte wird derzeit in Modellregionen eingeführt. Als Kinderärztin und Bundessprecherin des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte betrachten Sie diese Einführung sehr kritisch. Was sind Ihre wesentlichen Kritikpunkte?
Dr. Brunnert: Zuallererst möchte ich betonen, dass wir als Verband der Digitalisierung sehr aufgeschlossen gegenüberstehen. Viele digitale Features haben wir schon früh in unseren Praxen umgesetzt. Dennoch sehen wir bei der elektronischen Patientenakte einen großen Unterschied zwischen Minderjährigen und Erwachsenen. Ein zentraler Kritikpunkt ist die Datensicherheit, die generell ein großes Problem darstellt. Besonders problematisch ist aus unserer Sicht, dass der Gesetzgeber bislang keine Regelung für den Umgang mit den Daten von Kindern getroffen hat, die später als Jugendliche selbst über ihre Daten verfügen möchten.
esanum: Sie sprechen vom Übergangsalter, in dem Jugendliche selbst entscheiden können. Ab wann ist das genau?
Dr. Brunnert: Im medizinischen Bereich wird das Alter von 15 Jahren als Grenzpunkt angesehen. Wenn Jugendliche ausreichend entwickelt und einsichtsfähig sind, dürfen sie medizinische Entscheidungen selbst treffen. Aber was, wenn ein 15-Jähriger entscheidet, bestimmte Daten nicht mehr auf der Akte haben zu wollen? Hierfür gibt es keine Regelung.
esanum: Das heißt, bei einem 5-jährigen Kind wird eine Akte angelegt und der Jugendliche könnte das mit 15 anders sehen?
Dr. Brunnert: Genau, der Jugendliche hat ein gutes Recht dazu. Es gibt aber keine klare Regelung, wie man diese Daten entfernen kann. Ein weiteres Problem ist, dass bei getrennt erziehenden Eltern der Zugang zu sensiblen Informationen, wie etwa einem Missbrauchsverdacht, einer Herausforderung unterliegt. Ein Elternteil könnte Einsicht in Informationen erhalten, die heikel sind oder gegen den Willen des Kindes oder des anderen Elternteils sind.
esanum: Gesundheitsminister Lauterbach bezeichnet die ePA als ein reifes Produkt. Doch nach Ihrer Darstellung klingt es nicht danach.
Dr. Brunnert: Unsere Kritik ist möglicherweise bereits an entscheidenden Stellen angekommen, was ich begrüßen würde. Es gibt Fragen, die dringender Klärung bedürfen. Etwa die Verhütung bei einer 15-Jährigen, die eventuell ohne Kenntnis der Eltern erfolgt. Solche Daten gehen als E-Rezept in die elektronische Patientenakte ein. Bevor wir den Eltern empfehlen, diese Akte für ihre Kinder zu nutzen, müssen diese Fragen gelöst werden. Natürlich erkennen wir auch die Vorteile der Digitalisierung: Sie bietet einen Überblick über die Verordnungen und Diagnostiken, die das Kind erhalten hat, möglicherweise von anderen Ärzten, was Doppeluntersuchungen vermeidet. Obwohl wir diesen Vorteilen offen gegenüberstehen, überwiegen derzeit die Nachteile.
esanum: Was macht die elektronische Patientenakte bei Kindern und Jugendlichen komplizierter im Vergleich zu Erwachsenen?
Dr. Brunnert: Ein wesentlicher Punkt ist, dass die Akte bei Kindern oft nicht nur das Kind betrifft, sondern auch die Eltern. Das kann bei getrennt Erziehenden besonders problematisch werden. Zudem sind in der Kinder- und Jugendzeit relevante Entwicklungsveränderungen zu beachten. Sensible Diagnosen, die für einen 18-Jährigen irrelevant sein könnten, bleiben ohne klare Regeln erhalten. Ein kindlicher Bettnässer von einst sollte nicht jahrelang eine psychiatrische Diagnose mit sich führen müssen.
Die Persönlichkeitsentwicklung ist in dieser Lebensphase sprunghaft. Privatversicherte sind es gewohnt, Diagnosen transparent zu sehen, doch im Kassensystem stehen uns da andere Herausforderungen bevor. Eltern könnten von Verschlüsselungen in der Patientenakte überrascht werden, die zur Abrechnung nötig sind.
esanum: Das bedeutet, persönliche Veränderungen und sensible Daten müssen berücksichtigt werden, insbesondere beim Wechsel ins Erwachsenenalter?
Dr. Brunnert: Ja, das ist entscheidend. Bei Jugendlichen, die über ihre Gesundheit Bescheid wissen und Entscheidungen treffen, muss die ärztliche Schweigepflicht gewährleistet werden, ohne dass Eltern unerwünscht Einblick erhalten.
esanum: Bis diese Punkte geklärt sind, raten Sie zum Opt-out?
Dr. Brunnert: Im Moment ja. Wir freuen uns, dass das Bundesgesundheitsministerium unsere Bedenken aufgenommen hat und das Signal gibt, nachzubessern. Wie und wann das umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Es ist ein spannendes Thema, bei dem Fortschritte erforderlich sind, um die Bedenken auszuräumen und das System nutzerfreundlich für Kinder und Jugendliche zu gestalten.
Dr. Tanja Brunnert ist Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderosteopathie sowie Bundespressesprecherin im Bundesvorstand des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendärzte.