Die Zahl der an rheumatoider Arthritis (RA) erkrankten Menschen in Deutschland nimmt offensichtlich zu – bei insgesamt höherer Prävalenz als bislang angenommen. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren einer Publikation zur Epidemiologie der RA im Zeitraum 2009-2015. Demnach gewinnt die RA auch in der vertragsärztlichen Versorgung an Bedeutung – mit einem Zuwachs um fast 140.000 Patienten innerhalb von nur sechs Jahren.
Wie die Autoren zum Hintergrund der Studie erläutern, existierten bislang kaum belastbare Daten zur Epidemiologie der RA in Deutschland. Schätzungen beruhten nahezu ausschließlich auf internationalen und meist schon älteren Studien. Die jährliche Neuerkrankungsrate je 100.000 Personen wurde mit 20-30 bei Männern und 40-60 bei Frauen beziffert, bei einer geschätzten Prävalenz in der Bevölkerung von 0,8 %. Die einzige Studie mit in Deutschland erhobenen Primärdaten bestand jedoch in einer Befragung mit anschließender rheumatologischer Untersuchung, die in den 1980er Jahren in der Region Hannover durchgeführt wurde. Die dabei ermittelte Prävalenz betrug 0,9 %. Abrechnungsdaten der BARMER GEK aus dem Jahr 2013 ergaben eine alters- und geschlechtsstandardisierte Diagnoseprävalenz von 0,95 %. Die Diagnoseprävalenz spiegele jedoch nur die realisierte Inanspruchnahme der medizinischen Versorgung anlässlich einer Diagnose wider. Sie könne daher nur mit Einschränkungen mit der wahren Prävalenz in der Bevölkerung – von den Autoren der vorliegenden Publikation als "epidemiologische Prävalenz" bezeichnet – gleichgesetzt werden. Für schubförmig verlaufende Erkrankungen wie die RA gelte dies in besonderem Maße.
Für die hier vorgestellte Auswertung wurden die bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten gemäß § 295 SGB V der Jahre 2009-2016 herangezogen. Damit umfasst der Datenkörper alle gesetzlich krankenversicherten Personen, die im Untersuchungszeitraum mindestens einen Arztkontakt im Rahmen des vertragsärztlichen Leistungsgeschehens hatten. Patienten wurden als RA-Fall klassifiziert, wenn sie in einem Quartal eines Jahres eine RA-Diagnose aufwiesen und in einem der drei Folgejahre ebenfalls eine RA-Diagnose vorlag. Zusätzlich musste in einem der Diagnosequartale eine Entzündungsdiagnostik durchgeführt worden sein. Das Ziel dieser strengen Falldefinition war es, eine hohe Spezifität sicherzustellen. Die epidemiologische Prävalenz wurde für das Jahr 2014 ermittelt, um sowohl zurück (auf die Jahre 2009-2013) als auch nach vorn (auf das Jahr 2015) blicken zu können.
Im Zeitraum 2009-2015 stieg die Diagnoseprävalenz kontinuierlich von 0,87 % auf 1,08 % an. Die Zahl der Patienten erhöhte sich damit von 526.211 im Jahr 2009 auf 666.220 sechs Jahre später – entsprechend einer Zunahme um 24 %. Die absolute Zahl der Patienten, die wegen einer RA behandelt wurden, nahm damit um rund 140.000 zu. Die epidemiologische Prävalenz wird für das Jahr 2014 sogar auf 1,23 % geschätzt. Dies entspricht 753.477 Patienten mit RA unter allen gesetzlich Krankenversicherten. Über den gesamten Zeitraum war die Prävalenz bei Frauen fast 2,5-fach höher als bei Männern. Mit dem Alter stieg sie graduell an, mit einer Prävalenz in der Altersgruppe der 75- bis 79-Jährigen von 3,3 % bei Frauen und 1,71 % bei Männern. Bei jüngeren Patienten war der geschlechterspezifische Unterschied ausgeprägter als bei älteren.
Nach Standardisierung nach Alter und Geschlecht lag die Diagnoseprävalenz in den ostdeutschen Bundesländern im Jahr 2014 fast 20 % höher als in Westdeutschland (Ausnahmen: Sachsen-Anhalt mit niedrigerer und Niedersachsen mit höherer Prävalenz). Auf Ebene der einzelnen KV-Bereiche wurde ein markantes Gefälle von Nord/Nordost nach Süd/Südwest sichtbar – mit der höchsten Prävalenz in Mecklenburg-Vorpommern und deutlich geringeren Prävalenzen in den südlichen und südwestlichen Bundesländern (Ausnahme: Baden-Württemberg). In den Stadtstaaten Bremen und Hamburg war die Prävalenz deutlich geringer als in den sie umgebenden Flächenländern.
Zu den Ursachen des Prävalenzanstiegs können die Autoren der Publikation nur Vermutungen anstellen. Eine mögliche Erklärung ist die Änderung der Klassifikationskriterien zur Definition einer RA im Jahr 2010. Da sie eine höhere Sensitivität aufweisen als die zuvor gültigen Kriterien, könnten sie sukzessive zu einem scheinbaren Anstieg der Prävalenz geführt haben. In einer kanadischen Studie wurde aber schon von 1996-2010 ein jährlicher Anstieg um durchschnittlich 4,7 % festgestellt. Als weitere Erklärungsmöglichkeiten für den Anstieg der Patientenzahlen kommen unter anderen ein abnehmendes Sterblichkeitsrisiko bei RA-Erkrankten, der demographische Wandel sowie regelmäßigere Arztbesuche infolge der erweiterten Therapiemöglichkeiten und der dadurch gesteigerten Adhärenz der Patienten in Betracht.
Die Studie weist darauf hin, dass die wahre Prävalenz der RA in Deutschland höher ist als bislang angenommen. Angesichts des kontinuierlichen Anstiegs der Diagnoseprävalenz ist von einer zunehmenden Bedeutung der RA in der vertragsärztlichen Versorgung auszugehen. Bei der Interpretation der Daten ist zu berücksichtigen, dass Auswertungen von Krankenversichertendaten grundsätzlich mit Limitationen behaftet sind und Diagnosestellungen nicht überprüft werden können. Mit der strengen Falldefinition wurde Unsicherheiten jedoch bestmöglich begegnet.
Quelle:
Steffen A, Holstiege J, Goffrier B, Bätzing J. Epidemiologie der rheumatoiden Arthritis in Deutschland – eine Analyse anhand bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten. versorgungsatlas.de, Bericht Nr. 17/08, veröffentlicht am 23.11.2017. DOI: 10.20364/VA-17.08