Dr. Fleck: "75 Prozent unserer Patienten können zuhause im Kreise der Familie sterben"

Dr. Ullrich Fleck engagiert sich für die Palliativpflege und gründete den Hospizverein Luckenwalde.

   

Die esanum Global Series

... ist eine Sammlung von Artikeln, die esanums deutsch-, italienisch-, englisch- und französischsprachige Redaktion zusammenbringt, um eine globale Perspektive auf die aktuellen Themen und Geschichten zu bieten, die das Leben von Ärzten beeinflussen.

In unserer zweiten Beitragsserie "Begleitung am Lebensende | End-of-Life Care" interviewen wir Ärztinnen und Ärzten, die sich mit dem Thema Sterben beschäftigen und Menschen am Ende ihrer Lebensphase begleiten. In allen Interviews, die wir führten, wurde betont, wie wichtig es ist, sich diesem Thema anzunehmen, denn die Begleitung von Menschen am Lebensende ist eine der menschlich anspruchsvollsten Aufgaben von Ärzten und erfordert oft Entscheidungen, die nicht einfach zu treffen sind.

Die Interviewserie ist eine Kollaboration der Redaktionsteams von esanum.de, esanum.fresanum.it und esanum.com. Die jeweiligen Artikel bilden die Perspektive unserer Interviewpartnerinnen und -partner ab und stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion dar. Durch Übersetzungsprozesse kann es zu Einbußen im sprachlichen Ausdruck kommen, die im jeweiligen Original nicht vorhanden sind.

Drei Viertel aller Sterbenden in Brandenburg werden so bis zum Ende betreut

Die Initialzündung für sein Bestreben, das Sterben mit hinein zu nehmen in sein Arztleben, kam jedoch viel früher: Kurz nach der Wende, Ullrich Fleck erlebte sie als Chirurg in Erfurt, erkrankte sein ärztlicher Mentor und starb schließlich mit nur 52 Jahren, auch die "neue" westliche Medizin konnte den verehrten Lehrer nicht retten. Im Gespräch mit esanum erzählt Ullrich Fleck, wie er den Balanceakt bewältigt zwischen erlaubter Sterbebegleitung und vom Patienten häufig erbetener Sterbehilfe, wie die Arbeit in den Palliativstützpunkten in Brandenburg funktioniert und warum es so wichtig ist, dass die Krankenkassen bei Fallpauschalen bleiben, statt Einzelleistungen abzurechnen. 

Herr Dr. Fleck, als wir in der Redaktion das Thema besprachen, hatten wir die Vorstellung, es gibt irgendwo in Brandenburg noch Hausärzte, die zwei-, dreimal die Woche zu ihrem Patienten fahren und dem so mit viel persönlichem Engagement die Möglichkeit geben, zuhause zu sterben. Jetzt habe ich von Ihnen gelernt, Engagement, Empathie und ein hoher Zeitaufwand gehören dazu, aber die Struktur ist mittlerweile eine andere?

2008 hat die Landesregierung in Brandenburg ein Gutachten in Auftrag gegeben, und in diesem Gutachten sind wir mit unserer Struktur als Palliativ- und Hospizverein mit federführend genannt worden. Im Ergebnis der gesamten Zusammenarbeit ist da gesagt worden, dass man Palliativstützpunkte entwickeln sollte, so etwa zehn im ganzen Land Brandenburg. Und weil ich schon in diesen Strukturen und in der Landesärztekammer engagiert war, bekamen wir hier so einen Stützpunkt, aus der AAPV, der allgemeinen ärztlichen Palliativ-Versorgung, wurde die SAPV, die spezialisierte Ärztliche Palliativ-Versorgung für Mediziner mit einer entsprechenden Zusatzausbildung. Da sind nicht nur Hausärzte dabei, die ohnehin schon stark belastet sind, sondern auch stationäre Ärzte, Oberärzte an der Klinik aus unterschiedlichen Gebieten. Für eine Kooperation mit dem Stützpunkt braucht der Arzt die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin.

Können Sie ein Beispiel geben, wie die Zusammenarbeit von Ärzten und Pflegern in der ambulanten Palliativ-Versorgung funktioniert?

Also ein Patient, mit dem auch der Hausarzt in der Gesamtsituation überfordert war, war ein 74 Jahre alter Mann mit Darmkrebs. Nennen wir ihn Paul. Einige Jahre zuvor war der Tumor im Darm operativ entfernt worden. Aber nun bekam er viele Jahre später, wie das häufig so ist, überall kleine Metastasen auf dem Bauchfell. Hatte auch einen Darmverschluss, wurde erneut operiert und mit einem künstlichen Darmausgang, wo der dünne Stuhl aus dem Dünndarm rauskam, nach Hause entlassen. Das war von der Wundbehandlung her schwierig, denn dieser dünne Stuhl ist aggressiv und reizt die Haut, wenn er mit ihr in Berührung kommt. Aber in Zusammenarbeit mit dem Pflegeteam, das da sehr professionell mit umgegangen ist, konnte er sich doch von diesem Darmverschluss erholen und hatte noch eine gute Zeit. Die Metastasen wuchsen aber weiter, und so kam es zum nächsten Darmverschluss. Und da war man halt immer wieder in der Situation, dass man überlegen muss, ob der Darmverschluss dazu führen soll, dass man den Patienten von dieser Welt gehen lässt, oder ob man versucht, das therapeutisch zu lösen und ihm wieder etwas Zeit zu geben. Einmal pro Monat hatten wir diese besondere Situation, dass da ein Darmverschluss war, mit einem gewissen Stuhlerbrechen, man muss schon sagen, dass das für den Patienten mit großem Leid verbunden ist und man sich fragt, muss man den noch weiter so quälen?

Letztendlich ist es uns mehr als neun Monate gelungen, ihm noch Lebensqualität und Lebenszeit zu geben, er konnte auch viel mit seiner Partnerin noch im Garten sein, und dann ist er verstorben, weil er doch mehr Ängste hatte, die konnten wir ihm mit starken Medikamenten nehmen, er konnte sich noch von seiner Familie verabschieden. Und dann ist er doch mehr eingeschlafen, also es ist ein friedvolles Einschlafen gewesen. Und das ist so eine Situation, die einen niedergelassenen Kollegen eher überfordert, zumal da ja zwischen dem künstlichen Darmausgang und der Bauchdecke die Metastasen wucherten und man zusehen musste, dass der Krebs nicht durchbricht.

Hat man mit Paul offen darüber reden können, dass es mit ihm zuende geht?

Ein Prinzip Hoffnung hat ja jeder. Man kann nicht von Anfang an so zerstörerisch eine vermeintliche Wahrheit sagen, die wir ja auch nicht kennen, wann oder wie er sterben könnte. Man versucht also, das Prinzip Hoffnung immer mitlaufen zu lassen, ohne ihn zu belügen. Man berichtet wahrheitsgemäß, was für Möglichkeiten man hat, und ob er diese Möglichkeiten mit uns mitgehen möchte oder nicht. Es gibt bei fast jedem ein gewisses Gespräch, wo es um Todeswünsche geht. Also die Frage: Doktor, haben Sie nicht eine Spritze, damit ich, wenn es mir ganz schlecht geht, schnell von dieser Erde gehen kann? Und auch wenn wir diese Spritze vielleicht hätten, gilt es zu sagen: Nein, wir sind nicht ein Todeskommando, wir sind hier, um Ihre vielen Symptome ordnungsgemäß zu behandeln und Ihnen Schmerzen zu ersparen. Falls die Medikamente die Nebenwirkung haben, dass Sie etwas eher gehen, nun gut. Aber nicht wir als Ärzte bestimmen den Zeitpunkt, sondern der Patient mit seinem Gesamtzustand.

Wünschen Sie sich für Deutschland eine liberalere Gesetzgebung wie in der Schweiz oder in den Niederlanden?

Nein, das wünsche ich mir nicht. Man muss die Ärzte dazu anregen, in dieser letzten Phase mehr Verantwortung zu übernehmen. Das muss nicht gesetzgeberisch geregelt werden. Denn bei jedem Gesetz gibt es eine Gesetzeslücke, einen persönlichen Handlungsspielraum, den der Arzt mit seiner Kompetenz ausfüllen muss.

Aber andere Verordnungen, ein anderes Verhalten der Krankenkassen, das wünschen Sie sich schon?

Es gibt seit 2015 ein überarbeitetes Palliativ- und Hospizgesetz, wo jeder Bürger einen Anspruch hat, am Ende des Lebens eine gute Betreuung zu haben. Da gibt es einen Paragraphen 132d, der den Arzt zu einer Zusatzausbildung in Palliativmedizin verpflichtet und genauso die PflegerInnen. Das muss aber auch entsprechend honoriert werden. Unsere komplexe Arbeit lässt sich nicht in Einzelleistungen darstellen, dass man sagt, ich war jetzt 15 Minuten da, ich habe 15 Minuten Anfahrtsweg gehabt, ich habe die und die Medikamente verabreicht, und das wird alles leistungsmäßig aufgeschlüsselt. Es muss pauschal bezahlt werden, denn manchmal muss ich viel reden, manchmal nur wenig, manchmal muss ich lange bleiben, um die Wirkung meiner Medikamente abzuwarten und zu prüfen, manchmal kann ich Betreuung an einen Angehörigen delegieren. Die Krankenkassen wollen gern eine Abrechnung von Einzelleistungen, aber dann ist das schließlich wie im Krankenhaus, und da kenne ich mich ja nun sehr gut aus, dass wir nur noch mit der Dokumentation beschäftigt sind und nicht mehr die Zeit haben, die Hand zu halten, die Nöte anzuhören, wirklich für den Patienten da zu sein. Diese Zeit muss uns die Krankenkasse pauschal geben, statt uns zu misstrauen, dass wir uns da bereichern wollen. Wir sind nicht für die Kassen da, und die dürfen auch nicht denken, dass sie die Pauschalen immer weiter senken können. Eine Wohnort-nahe ambulante Palliativversorgung ist ein hoher Wert, die Patienten und Angehörigen wollen das gern in Anspruch nehmen, und sie haben laut Gesetz ein Recht dazu. 75 Prozent unserer Patienten können zuhause im Kreise der Familie sterben.

Was würden Sie jungen Ärzten mit auf den Weg geben, worauf sollen die in der Ausbildung achten, oder was ist Ihre Botschaft an die nachfolgende Generation?

Die Palliativmedizin hat sich in den letzten Jahren, Jahrzehnten sehr intensiv entwickelt, es sind neue Leitlinien verabschiedet worden, sie ist auf eine höhere wissenschaftliche Basis gebracht worden. Damit hat sich auch für die Studenten viel getan, Palliativmedizin ist schon Lehrfach. Und die palliativmedizinischen Aspekte sind in jedem Fach in die Weiterbildungsordnung mit aufgenommen worden. Auch wenn psychologische Aspekte in der Betreuung eines Sterbenden eine große Rolle spielen, sieht es in der Gynäkologie nun mal etwas anders aus als in der Urologie. Nun müssten aber auch die Chefärzte ihre Perspektive verändern und auch in der Lehre und Weiterbildung sagen, wie der Arzt denn damit umgehen soll, wenn die Krankheit nicht mehr zu heilen ist.

Der Tod gehört eben zum Leben mit dazu, wir müssen an bestimmten Erkrankungen sterben. Das ist ein Prozess, und jeder Arzt, der sich verpflichtet fühlt, den Patienten zu heilen, sollte genau so anerkennen, dass auch er an einen bestimmten Punkt kommen könnte, wo die Heilung nicht mehr das Hauptziel ist. Und diese Therapiezieländerung muss früh mit dem Patienten besprochen und von ihm mitgetragen werden. Es ist nun mal so, wenn jemand von einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung betroffen ist, kommt der Arzt irgendwann in die Situation, dass die Luftnot so groß ist, dass nur noch beruhigende Medikamente helfen, damit der Patient nicht an Erstickungsanfällen leidet. Und es kann nicht sein, dass der Lungenfacharzt sich um diese Patienten nur kümmert, so lange das noch gut therapierbar ist, der Patient noch gut Luft kriegt, und wenn es dann irgendwann schlecht wird, sagt er, nun gehen Sie bitte nach Hause, und wir holen dann einen spezialisierten Palliativarzt zu Ihnen, und der wird Ihnen das dann alles erklären. Dieser Prozess muss auch von den eigenen Fachgebieten immer mit gestaltet werden. 

Ullrich Fleck, Sie sind nun bereits vom täglichen Krankenhausdienst befreit. Zwar sind Sie viel unterwegs und engagiert, fahren zu Medizin-Kongressen und Ähnliches, trotzdem könnte ich sagen, Sie haben die Zeit, sich um sterbende Patienten zu kümmern. Aber woher nehmen andere stationär tätige Ärzte die Zeit, das noch nebenher zu machen?

Die Zeit muss man sich wirklich nehmen. Das ist nicht Zeit, die Sie von Ihrer täglichen Arbeitszeit wegnehmen. Auch die Ärzte in den Krankenhäusern, die müssen nach Dienst noch zu dem Patienten hinfahren und diese speziellen Maßnahmen mit ihm besprechen. Es ist eine Empathie mit drin, dass ich das machen möchte, und dass ich dafür mir auch die Zeit nehmen möchte. Man kriegt wirklich viel zurück, man hat da sehr dankbare Patienten, die gut verstehen, dass hier eine besondere Leistung erbracht wird. Manchmal, wenn ich meine eigene Arbeit so sehe, und ich war ja auch während meiner Tätigkeit als Chefarzt schon involviert, da geht man eben auch mal am Samstag oder am Sonntag. Man telefoniert dann gelegentlich etwas häufiger. Es ist sogar vorgekommen, dass, wenn ich im OP stand, die Pflegekraft anrief und fragte, Doktor, was soll ich machen. Ich bleibe dabei, man braucht viele Ärzte und nicht wenige Spezialisten, weil man nur zwei bis vier Patienten betreuen kann. Zu denen geht man zwischen zwei und viermal pro Woche hin und guckt, ob es alles so läuft, wie es soll. Und auch da erfährt man eine Menge, hat sehr intensive Gespräche mit dem Patienten und kann genau herauslesen, was jetzt für ihn wirklich wichtig ist. Ob da Medikamente das Richtige sind oder man lieber einen Physiotherapeuten beauftragen soll, der Lymphdrainage macht, um dieses schwere Leid zu lindern. 

Im vergangenen Jahr ist Ihre Frau gestorben…

Ja, sie hatte Brustkrebs. Auch sie konnte sich von Ihren Kindern und Enkeln verabschieden und zuhause sterben. Das war natürlich sehr schwer für mich. Ich konzentriere mich jetzt auf eine Aufgabe, die ich noch bewältigen will: Ich will hier in unserem Landkreis ein Kinderhospiz aufbauen. Wie genau das gestaltet werden soll, ob die Kinder da länger aufgenommen werden oder nur tageweise, um die betroffenen Familien zu entlasten, das ist noch nicht so ganz klar. Aber ich denke, wir brauchen hier in der Nähe so eine Einrichtung.