So gut vorbereitet wie Karl Lauterbach war bislang noch kein Gesundheitsminister: Arzt, Master in Public Health, Spezialisierung in Epidemiologie, promoviert in Harvard mit einem gesundheitsökonomischen Thema, Professor und Institutsdirektor an der Uni Köln, Mitglied im Sachverständigenrat, 20 Jahre Erfahrung als Bundestagsabgeordneter und durchgängig im Gesundheitsausschuss – sind das nicht beste Aussichten für hohe Erfolgswahrscheinlichkeit?
Als Lauterbach sein Amt antrat, steckte Deutschland im letzten Drittel der Pandemie. Auch hier hatte er aktiv an der Diskussion um Risiken und ihre Abwehr – nicht nur als Politiker, sondern auch als Fachmann mit weltweit besten Verbindungen zur wissenschaftlichen Community – teilgenommen. Die Konsequenzen? Bestenfalls halbherzig, jedenfalls unvollständig. Eine systematische Aufarbeitung der Pandemie und der offenkundigen Schwächen im Pandemie-Management hat es bis heute nicht gegeben. Die Notwendigkeit dazu wurde unisono anerkannt, blieben aber Lippenbekenntnisse, Sonntagsreden.
Schon unter Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn war der „Pakt für den ÖGD“ geschnürt worden mit dem Ziel, Personalaufbau und Digitalisierung voranzutreiben. Das ist in der Tat passiert, auf dem Papier sieht der ÖGD besser aus. Einem Stresstest wurde er jedoch nie unterzogen. Stringentes Controlling? Fehlanzeige.
Es gibt allerdings auch einen Lichtblick in dieser Legislaturperiode: Die Digitalisierung, lange Zeit in Deutschland auf Steinzeitniveau, wurde um wichtige Schritte vorangetrieben und ist inzwischen in der Praxis angekommen: eAU und eRezept sind realisiert, die elektronische Patientenakte steht unmittelbar vor dem Rollout. Ob sie in der Praxis funktioniert, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die Hoffnung stirbt zuletzt…
Geradezu einen Paradigmenwechsel hat die Ampel beim gesundheitsbezogenen Datenschutz vollbracht: Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz wurde der Primat eines einseitig definierten Datenschutzes durch das überragende öffentliche Interesse an pseudonymisierten Daten für Forschungszwecke auch der Industrie relativiert. Das macht es endlich auch in Deutschland im Prinzip möglich, Forschung mit Real-World-Daten zu betreiben. Zusammen mit dem Medizinforschungsgesetz, das die Genehmigung klinischer Studien in Deutschland maßgeblich erleichtert, wurde auch ein Stück Bürokratieabbau geleistet.
Ein spezielles Bürokratieabbaugesetz für das Gesundheitswesen, wie es wiederholt von Lauterbach und den Koalitionsfraktionen angekündigt wurde, kam jedoch nie zustande – nicht einmal Eckpunkte sind dafür entwickelt worden. So wird weiterhin, trotz sich verschärfenden Fachkräftemangels, Arbeitskraft von Ärzten und Pflegekräften vergeudet.
Zu den besonders düsteren Kapiteln der Ampel-Bilanz zählt die Präventionspolitik. International zählt Deutschland zu den rückständigsten Ländern, wie Studien der OECD ausweisen. 20 Jahre ist (fast) nicht passiert, das lässt sich inzwischen an den Mortalitätsstatistiken für vermeidbare Krankheiten und der Lebenserwartung ablesen. Aufgrund seiner Vorbildung weiß Karl Lauterbach um die Bedeutung einer One-Health-in-All-Politik, der Verknüpfung von gesundheitlicher Prävention mit allen relevanten Politikfeldern wie Bildung, Arbeit, Lebensmittelqualität und Steuerpolitik. Vorsichtige Ansätze, wie zum Beispiel der Gesundheitsschutz bei Hitzeperioden, verdunsten wie der Tropfen auf dem heißen Stein.
Fortgesetzt wurde dafür eine Politik des Klein-Klein. Etwa mit dem umstrittenen Gesunden Herz-Gesetz, das allerdings nicht mehr die parlamentarischen Hürden geschafft hat. Oder die Gründung eines eigenen Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin, das neuerdings Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit heißt. Dafür nimmt man in Kauf, das RKI zu amputieren (und dessen Mitarbeiter) zu frustrieren), den Menschen in zwei Teile zu zerlegen, differenziert nach ansteckenden und nicht ansteckenden Krankheiten, die Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung ebenso zu zerteilen. Warum zwei Behörden mit sehr verwandten Aufgabenstellungen mit zwei Verwaltungsapparaten notwendig sind, bleibt Lauterbachs Geheimnis.
Ein Torso bleibt die Krankenhausreform, obwohl ein wichtiges Teilstück, das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, inzwischen verabschiedet ist. Es fehlen noch wichtige Rechtsverordnungen, deren Zustimmung im Bundesrat zweifelhaft sein könnte. Und: Es fehlen als zwingend notwendige Ergänzungen Reformen für die Notfallversorgung und den Rettungsdienst.
Dabei lagen im Grunde aller Erkenntnisse zu Reformnotwendigkeiten und -möglichkeiten schon zu Beginn der Legislaturperiode auf dem Tisch. Bereits die ersten Monate der Pandemie im Jahr 2020 offenbarten das enorme Leistungsgefälle der Krankenhäuser in solche, die die Hauptlast der Pandemie schulterten und solche, die sich aus der Versorgung weitgehend verabschiedeten und damit zu Grenzanbietern degenerierten. Da wurden noch einmal Milliarden Euro verplästert.
Für die Reform der Notfallversorgung und des Rettungsdienstes hatte der Sachverständigenrat für Gesundheit bereits im September 2018 Konzeptionen vorgelegt. Dennoch brauchte das Gesundheitsministerium zweieinhalb Jahre, bis das Kabinett im Sommer 2024 einen Regierungsentwurf verabschieden konnte. Der wurde im Oktober in den Bundestag eingebracht, wenige Wochen später zerlegte sich die Ampel.
Dabei war sich die Expertenwelt seit Jahren einig: Deutschland hat zu viele Krankenhäuser mit ineffizienten und nicht leistungsfähigen Strukturen. Sie schaden aufgrund fehlender Patientensteuerung der Gesundheit, fressen überdies ungerechtfertigt viel Geld und absorbieren unnötig Arbeitsressourcen. Dass viele Krankenhäuser – bei einer durchschnittlichen Kapazitätsauslastung von aktuell 65 Prozent – zum Fass ohne Boden werden, war spätestens 2020 abzusehen. Zum Jahreswechsel bekamen die Beitragszahler die Quittung.
Ebenso unvollendet blieben Reformen der ambulanten Versorgung: Zwar wurden Hybrid-DRGs eingeführt – und in Ansätzen werden sie wohl auch genutzt – und Teile der kinder- und auf den letzten Drücker auch der hausärztlichen Versorgung entbudgetiert (jeweils in Kombination mit außerordentlich komplizierten und hyperbürokratischen Vorgaben für die Bereinigung der verbleibenden morbiditätsbedingten Gesamtvergütung der beiden Fachgruppen). Eine wirkliche Stärkung der ambulanten Versorgung, insbesondere auch durch Fachärzte (Stichwort: überlange Wartezeiten), kam nicht zustande.
Auch die geplante Schaffung von geeigneten Strukturen zur barrierefreien Versorgung vulnerabler Gruppen blieb auf der Strecke. Der Plan, 1000 Gesundheitskioske als eigene Versorgungssäule zu etablieren, stieß auf massive und berechtigte Kritik der Ärzteschaft. Denn funktionierende und in die ambulante ärztliche Versorgung integrierte Modelle, wie sie vom Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses erfolgreich evaluiert waren, ließ Lauterbach außer Acht. So schafft man Frust.
Auf der langen Bank dümpelt ebenfalls die seit langem notwendige Reform des Medizinstudiums. Strittig ist zwischen Bund und Ländern, wie die damit verbundenen Kosten, schätzungsweise 300 Millionen Euro, finanziert werden sollen. Ungeachtet dessen fordert Lauterbach vollmundig 5000 neue Medizinstudienplätze. In den Sternen steht, wie das bezahlt werden soll. Die Wirkung wäre ohnedies fragwürdig. Angesichts einer Gesamtausbildungsdauer bis zum fertigen Facharzt von mindestens zwölf Jahren wäre ein Effekt für die Versorgung frühestens Ende der 2030er Jahre zu erwarten. Keinen Plan hatte Lauterbach dagegen, wie andere qualifizierte Gesundheitsberufe wie etwa der Physician Assistant gefördert und sinnvoll in die Versorgung integriert werden könnte.
Unverändert düster bleiben die Perspektiven in der Pflege. Trotz steigender Beitragssätze ist die Finanzierung prekär, auch weil der Bund seine Zusagen, pandemiebedingte Kosten durch Steuerzuschüsse abzudecken, nicht eingehalten hat. Gebrochen wurde die im Koalitionsvertrag gegebene Zusage, die Eigenbeteiligung in der Heimversorgung zu deckeln. Das macht eine steigende Zahl Betroffener zu Sozialhilfeempfängern. Das geht aber weniger auf das Konto Lauterbachs als das des bis November amtierenden Bundesfinanzministers Christian Lindner. Unverändert angespannt ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Pläne, in nennenswerter Zahl Pflegekräfte aus dem Ausland anzuwerben, sind offenbar aufgegeben worden, und die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen bleibt langwierig und voller bürokratischer Hürden.
So bleibt die gesundheitspolitische Gesamtbilanz der Ampel – auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Legislaturperiode ungefähr sieben Monate gefehlt haben – defizitär: Es mangelte überwiegend nicht an Problembeschreibungen und Reformkonzepten. Der größte Mangel waren fehlende Stringenz – allerdings auch auf der Länderebene – und ein desaströses Zeitmanagement. So ist das Ergebnis: nicht einmal „rite minus“.
Reformprojekt / Maßnahmen |
beschlossen? |
Effekt? |
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Öffentlicher Gesundheitsdienst: |
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Fortsetzung des Pakts für den ÖGD, Personalaufbau | + | ? |
Digitalisierung des ÖGD | + | ? |
Digitalisierung / Datennutzung / Bürokratieabbau |
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eAU, eRezept, ePA | + | ? |
Gesundheitsdatennutzungsgesetz | + | ? |
Bürokratieabbaugesetz | - | - |
Prävention |
||
Reform des Präventionsgesetzes, Stärkung der Primär- und Sekundärprävention | - | - |
Nationaler Präventionsplan | - | - |
Gesundes Herz-Gesetz | - | ? |
Errichtung eines Instituts für Öffentliche Gesundheit | + | ? |
Ambulante und stationäre Versorgung |
||
Hybrid-DRGs | + | +/? |
Integrierte Gesundheits- und Notfallzentren | - | - |
Gesundheitskioske | - | - |
Community Health Nurses auf dem Land | - | - |
Klinikreform: Planung und Vergütung | + | ? |
Reform der Notfallversorgung (INZ) | - | - |
Reform des Rettungsdienstes | - | - |
Entbudgetierung für Hausärzte | + | ? |
Erleichterungen für kommunale MVZ | + | ? |
Gesetz für diverses, inklusives und Barrierefreies Gesundheitswesen | - | - |
Arzneimittelversorgung |
||
Apothekenreform | - | - |
Sicherung der Versorgung mit Generika | +/- | ?/- |
Aufbau Generika-Produktion in der EU | - | - |
Investitionszuschüsse für Generikaindustrie | - | - |
Neue Regeln für Erstattung innovativer Arzneimittel | + | ? |
Drogenpolitik / Suchtbekämpfung |
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Cannabisgesetz; Legalisierung | + | ? |
Alkohol- und Tabakprävention | - | - |
GKV-Finanzierung |
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Dynamisierung des Bundeszuschusses | - | -- |
Steuerfinanzierung der Beiträge von ALG II und Bürgergeldempfängern | - | -- |
Pflege |
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Begrenzung der Eigenbeteiligung bei Heimpflege | - | -- |
Finanzierung versicherungsfremder Leistungen durch Steuern | - | -- |
Innovative Wohnformen | - | - |
Dynamisierung des Pflegegeldes | + | ? |
Freiwillige Vollversicherung | - | ? |
Pflegepersonalbemessung PPR.2.0 | + | +/? |
Pflegekompetenzgesetz | - | - |
Beschleunigte Gewinnung von ausländischen Fachkräften | - | - |