Noch ist das Personaltableau der der neuen Bundesregierung nicht entschieden – wohl aber die Aufteilung der Ressorts auf die Parteien. Danach wird die CDU künftig den Gesundheitsminister stellen – und der bisherige Minister Karl Lauterbach nach drei Jahren seinen Abschied nehmen müssen. Er hinterlässt seinem Nachfolger die Großbaustelle Krankenhausreform und eine waschsende Finanzlücke in der Kranken- und Pflegeversicherung. Und einen in den letzten Jahren sich verfestigenden Vertrauensschwund der Bürger in ihre Gesundheitsversorgung.
„Wir wollen eine gute, bedarfsgerechte medizinische und pflegerische Versorgung im ganzen Land sichern. Dafür wagen wir tiefgreifende strukturelle Reformen, stabilisieren die Beiträge, sorgen für schnelleren Zugang zu Terminen und verbessern die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen.“
Es ist ein großes Versprechen der Koalitionäre von Union und SPD auch für die Gesundheitsversorgung in Deutschland, die in den letzten Jahren immer mehr in eine Vertrauenskrise geraten ist. Wie das Versprechen umgesetzt und eingehalten werden soll, bleibt für weite Teile des Gesundheitswesens im Nebel.
Am konkretesten sind in dem am Mittwoch vorgestellten Koalitionsvertrag die Instrumente für Veränderungen und Reformen in der ambulanten ärztlichen Versorgung ausformuliert. Sie greifen zumindest teilweise Vorschläge und Forderungen aus der Ärzteschaft auf.
Um Wartezeiten zu verringern und Personal in den ärztlichen Praxen zu entlasten soll der Zugang zu Fachärzten strukturiert gestaltet werden. Dabei setzt die neue Koalition auf ein verbindliches Primärarztsystem mit freier Wahl des Haus- oder Kinderarztes sowohl in der hausarztzentrierten als auch in der kollektivvertraglichen Versorgung. Direktzugang zum Facharzt soll nur noch in der Gynäkologie und Augenheilkunde möglich sein. Für Patienten mit einer spezifischen schweren chronischen Erkrankung sollen eigene Lösungen erarbeiten werden; beispielsweise durch Jahresüberweisungen oder durch einen Fachinternisten, der in solchen speziellen Fällen als steuernder Primärarzt fungiert.
Primärärzte oder die von den KVen betriebenen Terminservicestellen (116 117) stellen den Bedarf für eine Konsultation eines Facharztes fest und übernehmen dafür eine Termingarantie. Das heißt, die Organisation eines Facharzttermins wird eine grundlegende Servicepflicht der hausärztlichen Praxisteams sein. Die KVen werden ebenso verpflichtet, diese Termine zu vermitteln. Gelingt dies nicht, erhalten Patienten ein Recht auf Behandlung durch einen Facharzt am Krankenhaus. Darüber hinaus soll flächendeckend die Möglichkeit geschaffen werden, via Telemedizin eine strukturierte Ersteinschätzung zu erhalten.
Mit dem Ausbau des Systems der Hybrid-DRGs soll die sektorenübergreifende Versorgung ausgebaut, ambulante und stationäre Leistungen stärker verschränkt werden.
Medizinische Versorgungszentren in der Trägerschaft von Investoren sollen einem Regulierungsgesetz unterworfen werden, das Transparenz über die Eigentümerstruktur und über die systemgerechte Verwendung der Beitragsmittel herstellt.
Durch Reformen der ärztlichen Vergütung soll erreicht werden, die Zahl nicht bedarfsgerechter Arztkontakte zu reduzieren; genannt werden Jahrespauschalen. Durch Flexibilisierung des Quartalsbezugs soll neuen Patienten ein besserer Zugang zu Ärzten verschafft werden. Zur Steigerung der Arbeitskapazitäten sollen die Kompetenzen der in den Praxen arbeitenden Gesundheitsberufe gestärkt werden. Ferner soll es ermöglicht werden, dass mehr Nachwuchsärzte ihre allgemeinmedizinische Weiterbildung in Praxen absolvieren können, etwa durch die Möglichkeit, dass ein weiterbildender Arzt zwei Ärzte in Weiterbildung betreut. Die Kapazitäten in der pädiatrischen Weiterbildung sollen ausgebaut werden.
Speziell für Fachärzte soll eine Entbudgetierung ihrer Vergütung in unterversorgten Gebieten geprüft werden. In diesen Regionen sollen auch universitäre Lehrpraxen ausgebracht werden. Außerdem sollen in (drohend) unterversorgten Gebieten Zuschläge zum und in überversorgten Gebieten (mehr als 120 Prozent) Abschläge vom Honorar eingeführt werden. Die Länder erhalten verstärkte Beteiligungsrechte an der Bedarfsplanung: Ihre Stimme soll künftig den Ausschlag geben.
Eine weitere Verbesserung für Ärzte: Mediziner im Bereitschaftsdienst sollen von der Sozialversicherungspflicht befreit werden. In diesem Zusammenhang nennt der Koalitionsvertrag ferner, dass die schon von der Vorgängerregierung vorbereitete Reform der Notfallversorgung und des Rettungsdienstes auf den Weg gebracht werden soll.
Relativ konkret sind auch die Vereinbarungen zur Sicherung der Apotheken, deren Zahl, insbesondere im ländlichen Raum, seit Jahren sinkt. Neben der Entlastung von Bürokratie- und Dokumentationspflichten und Abschaffung von Nullretaxationen soll der fixe Aufschlag je abgegebener Packung auf 9,50 Euro, in Abhängigkeit vom Versorgungsgrad in ländlichen Regionen auf 11 Euro erhöht werden. Vor-Ort-Apotheken sollen für Präventionsleistungen ausgebaut werden, der Apotheker als Heilberufler gestärkt werden.
Bei den weiteren Reformen für die stationäre Versorgung baut die neue Koalition im Wesentlichen auf den bereits in der vergangenen Legislaturperiode beschlossenen Gesetzen auf – allerdings mit Modifikationen und Präzisierungen:
Definitiv auf dem Arbeitsprogramm der neuen Bundesregierung steht ein spezielles Bürokratieabbaugesetz, mit dem Dokumentationspflichten und Kontrolldichten „massiv“ verringert werden sollen. „Wir… etablieren eine Vertrauenskultur und stärken die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Professionen, statt sie mit Bürokratie aus Gesetzgebung und Selbstverwaltung zu lähmen.“ Alle Gesetze sollen daher einem „Praxis-Check“ unterzogen werden. Angestrebt wird ein konsequent vereinfachtes und digitalisiertes Berichtswesen.
Die Bagatellgrenze für Regressprüfungen niedergelassener Ärzte soll auf 300 Euro erhöht werden. Die Prüfquote bei Krankenhäusern soll erheblich gesenkt werden, regelhaft unauffällige Kliniken erhalten eine angepasste Prüffrequenz. Für die Pflege sollen Kontrollen durch Medizinische Dienste und Heimaufsichten verschränkt werden.
Offenbar massive Eingriffe plant die neue Bundesregierung für Spitzenfunktionen in der Selbstverwaltung und deren Vergütungen: Maßstäbe dafür sollen die Gehalts-/Einkommensstrukturen der niedergelassenen Ärzteschaft (dann etwa für Gehälter der KV-Vorstände), der Krankenhäuser und des öffentlichen Gesundheitsdienstes sein. Insbesondere für die Top-Positionen der Krankenkassen, des Gemeinsamen Bundesausschusses oder der Medizinischen Dienste könnte dies erhebliche Einschnitte bedeuten. Die Koalitionäre sehen darin ein „erhebliches Einsparpotential“.
Die Chancen der Digitalisierung sollen weiter genutzt werden: Die ePA soll noch 2025 stufenweise ausgerollt werden, von einer bundesweiten Testphase zu einer verpflichtenden sanktionsbewehrten Nutzung. Der Austausch von Daten soll vereinfacht und vereinheitlicht werden.
Rahmenbedingungen und Honorierung von Videosprechstunden, Telemonitoring und Telepharmazie soll verbessert werden, um die Versorgung flächendeckend sicherzustellen. Alle Anbieter von Software- und IT-Lösungen im Bereich Gesundheit und Pflege müssen ab 2027 einen verlustfreien, unkomplizierten digitalen Datenaustausch auf Basis einheitlicher Standards sicherstellen.
Zur besseren Datennutzung in der Medizinforschung soll ein Registergesetz geschaffen werden. Deutschland soll sich zu einem „Spitzenstandort für die Gesundheitsforschung und klinische Studien“ entwickeln. Dabei werde. Auch der Verbund der deutschen Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger bei ihrer Arbeit unterstützt; in diesem Kontext soll in ein länderübergreifendes Behandlungszentrum für Infektionskrankheiten in Mitteldeutschland investiert werden.
Mit nur vier Sätzen widmet sich der Koalitionsvertrag der industriellen Gesundheitswirtschaft, obwohl sie als „Leitwirtschaft“ anerkannt wird. So sollen der Pharmadialog und die Pharmastrategie fortgeführt werden. Das AMNOG als Basis für Nutzenbewertungen und Erstattungsbeträge für neue Arzneimittel soll fortentwickelt werden mit Blick auf „Leitplanken“ und personalisierte Medizin. Für kritische Arzneimittel soll die Versorgungssicherheit durch Rückverlagerung von Produktionsstandorten nach Europa verbessert werden.
Mindestens ebenso vage bleiben die Aussagen zur Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. „Ziel ist es, die Finanzsituation zu stabilisieren und eine weitere Belastung für die Beitragszahlerinnen und -zahler zu vermeiden. Hierzu setzen wir auf ein Gesamtpaket aus strukturellen Anpassungen und kurzfristigen Maßnahmen. Ziel sei es, die Ausgabendynamik… zu stoppen.“ Dazu soll eine Kommission unter Beteiligung von Experten und Sozialpartnern eingerichtet werden und bis zum Frühjahr 2027 „Ableitungen trifft und konkrete weitere Maßnahmen vorschlägt.“
Im Klartext: Hoffnungen auf einen erhöhten und dynamisierten Bundesausschuss und eine volle Refinanzierung der Kosten von Bürgergeldempfängern sind damit obsolet. Die Hoffnung der Koalitionäre: mehr Einnahmen durch eine anspringende Konjunktur. Dennoch: Man wolle auch „die Kosten auf der Ausgabenseite reduzieren“.