Erst vor wenigen Jahren hat der Gesetzgeber die erweiterte Zustimmungslösung durch eine Entscheidungslösung ergänzt. Mit gezielten Informationskampagnen und direkter Ansprache (Nudging), etwa bei der Beantragung von Ausweispapieren, sollten Bürger animiert werden, von sich aus die Bereitschaft zur Organspende, etwa in einem zu schaffenden Organspenderegister, zu erklären. Das Register wurde erst vor kurzem fertig, registriert ist eine kleine sechsstellige Zahl von Organspendern.
Gebracht hat es nichts: Die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) meldet jährlich nahezu unverändert zwischen 870 und 965 Organspender, im Schnitt 11,3 pro eine Million Einwohner. Andere Länder wie Spanien, Belgien, Österreich, die Schweiz und die Niederlande (alle mit Widerspruchslösung) kommen teilweise auf ein Vielfaches.
Seit 2015, so die DSO, habe die Zahl der organspendebezogenen Kontakte um mehr als 50 Prozent auf fast 3500 (2024) insbesondere durch Schulung von Transplantationsbeauftragten in den Kliniken gesteigert werden können, das hat die Zahl der Organspender ab 2018 etwas, aber eher unwesentlich erhöht. Aber nur 28 Prozent dieser Kontakte führen zu Organspenden. Hauptursache für den Abbruch des Organspendeprozesses war zu 50 Prozent die fehlende Zustimmung des potentiellen Organspenders. Ursächlich dafür ist, dass nur etwa 15 Prozent aller möglichen gemeldeten Organspender ihre Spendenbereitschaft schriftlich dokumentiert hatten, weitere 15 Prozent mündlich. Je weniger klar und eindeutig diese Erklärung ist, umso weniger wahrscheinlich ist die Zustimmung der Angehörigen auf Basis eines mutmaßlichen Willens des Verstorbenen.
In der Einführung der Widerspruchslösung sieht die DSO daher ein wesentliches Element, die Zahl der Organspender sukzessiv zu steigern. Es sei das international gebräuchlichste Rechtsinstrument, zuletzt auch von den Niederlanden, UK und der Schweiz eingeführt.
Wie auch die Bundesärztekammer so erwartet die DSO einen Mentalitäts- und Bewusstseinswandel in der Gesellschaft hin zu einer „Kultur der Organspende“. Eben das bezweifeln die Skeptiker: So verweist die Medizinethikern Professor Claudia Wiesemann von der Universität Göttingen auf Daten aus UK, wonach dort die Zahl der Organspender gesunken sei und noch unter dem Niveau von 2019 liege. In den Niederlanden sei die Zahl der Spender nach Hirntod gesunken und kompensiert worden nur durch Spender nach Herztod (in Deutschland nicht erlaubt). Auf diesen Umstand macht auch der Erlanger Theologe Professor Peter Dabrock, zugleich Mitglied des Deutschen Ethikrats, aufmerksam: Der Gesetzgeber müsse sich ehrlich machen und anerkennen, dass die Datenbasis je nach Land unterschiedlich sei. So liege der Anteil der Organspenden nach Herztod in Spanien bei 45, in der Schweiz bei 52 Prozent.
Ferner wird argumentiert, dass in Ländern mit Zustimmungslösung, etwa in den USA, eine wesentlich höhere Rate an Organspendern rekrutiert werde – dem halten allerdings Transplantationsmediziner wie Professor Bernhard Banas (Uni Regensburg) entgegen, wegen der überhäufigen Schussverletzungen und der Opioidkrise seien die Daten ebenfalls nicht vergleichbar.
Nach wie vor kontrovers werden verfassungsrechtliche und ethische Aspekte der Widerspruchslösung diskutiert. Am weitesten in ihrer Kritik gehen der Theologe Dabrock und der Professor für Öffentliches Recht, Steffen Augsberg (Uni Gießen), die Verstöße gegen das Recht auf Selbstbestimmung („Schweigen ist keine Zustimmung“) und Verhältnismäßigkeit (Gibt es mildere Handlungsoptionen, die noch nicht ausgeschöpft sind?).
So betont Dabrock, dass nach der Deklaration von Helsinki und den professionsethischen Standards der Patienten- und Probandenbehandlung (im Rahmen klinischer Studien etwa für Arzneimittel) der informed consent als „Goldstandard“ gelte. „Ausgerechnet bei einer Frage um Leben und Tod mit erheblichen Konsequenzen für Familie und Gesellschaft soll aber gelten: Schweigen ist Zustimmung.“ Eine gewagte gedankliche Volte: Denn im Falle des Organspenders geht es nicht mehr darum, ihn mit dem Ziel der Heilung oder Linderung zu behandeln und ihm dabei auch möglicher Risiken zu nennen, sondern um einen hirntoten Menschen und sein Recht auf einen unversehrten Leichnam.
Und zur Verhältnismäßigkeit führt Dabrock aus: Es gibt andere Handlungsoptionen mit geringerer Eingriffstiefe. Die Umsetzung des Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft zur Organspende von 2020 sei „schleppend, um nicht zu sagen lustlos“ erfolgt. Das Organspenderegister sei erst 2024 stufenweise und nicht nutzerfreundlich eingeführt worden. Pass- und Ausweisstellen seien noch immer nicht in der Lage, die Organspendebereitschaft zu dokumentieren. Die Einführung der ePA werde nicht als Nudging-Instrument genutzt. Für Augenwischerei halt Dabrock auch die Einführung von Transpantationsbeauftragten, wenn nicht definiert sei, wie viel Zeit diesem Arzt für diese Funktion zur Verfügung stehe. Die Ausgaben von 41 Millionen Euro hält er jedenfalls für zu niedrig.
Es gibt offenkundig erheblichen Spielraum nach oben, wie auch die Stellungnahme der Medizinethikerin Wiesemann verdeutlicht: Hamburg, Bremen und das Saarland erzielen Spenderraten von über 20/1 Million Einwohner, fast das Doppelte des bundesdeutschen Durchschnitts. Wiesemann: „Hätten wir überall in Deutschland die Zahlen von Saarland und Mecklenburg-Vorpommern, hätten wir kein Organspende-Defizit.“
Mit anderen Worten: Es mangelt in Deutschland an Stringenz und Performance. Und dieser Mangel, so befürchtet der Jurist Auersberg, könne als Effekt der Widerspruchslösung noch verschärft werden, „indem der Blick auf organisatorisch-strukturellen Bedingungen zumindest partiell verstellt“ wird. Und das gelte auch mit Blick auf eine weitere Reformoption, nämlich die Erweiterung des Spenderkreises wie die Organspende nach kontrolliertem Herz-Kreislauf-Stillstand und koronarem Herztod. So könnte die Widerspruchslösung aus Patientensicht ein „Pyrrhus-Sieg“ werden.