Eine verfehlte und inkonsequente Präventionspolitik sowie die mangelhafte Umsetzung wissenschaftlicher Evidenz bei der Früherkennung bedeutender Krebsentitäten kostet nach Einschätzung führender Onkologen in Deutschland Tausende von Lebensjahren – angesichts der zur Verfügung stehenden innovativen Therapien, die inzwischen häufig zur Heilung führen, ein Skandal. Das war der Tenor des Vision Zero-Summit 2023 Anfang der Woche in Berlin. Ob die vor viereinhalb Jahren ins Leben gerufene Nationale Dekade gegen den Krebs die Wende bringt, erscheint angesichts der Herausforderungen und des bislang üblichen sogenannten Deutschland-Tempos fraglich.
Beispiel Gebärmutterhalskrebs: Die von dem jüngst verstorbenen Heidelberger Nobelpreisträger Harald zur Hausen erarbeiteten Erkenntnisse zum Mechanismus einer HPV-Impfung werden gerade im Erfinderland gering geschätzt. Der Anteil der vollständig geimpften Mädchen liegt bei 51 Prozent, die Quote bei den Jungen bei 17 Prozent. Die WHO hat 90 Prozent zum Ziel gesetzt – eine Marke, die von einer Reihe von Ländern bereits erreicht wird. Voraussetzung dafür sind stringente flächendeckende Programme in Schulen; das ist in Deutschland nur punktuell (mit Erfolg) erprobt worden. Für dringend notwendig wird auch konsequentes Engagement der Ärzteschaft gefordert – und eine Anpassung der Stiko-Empfehlungen mit dem Ziel, die HPV-Impfung in die Grundimmunisierung der Kinder aufzunehmen.
Beispiel Lungenkrebs: Seit den 2000er Jahren, in denen es eine Serie spürbarer Tabaksteuererhöhungen, begleitet von intensiven Aufklärungskampagnen der BZgA, gab, als deren Folge insbesondere bei Jugendlichen, aber auch Erwachsenen die Raucherquote beträchtlich sank, ist Prävention des Lungenkrebses zur Nebensache geworden. Der Anteil der Raucher und Raucherinnen liegt bei 31 Prozent und ist während der Pandemie sogar gestiegen, auch bei Jugendlichen. In UK liegt die Raucherquote bei 15 Prozent.
Hinsichtlich der Präventionsmaßnahmen hält Deutschland im internationalen Vergleich inzwischen die rote Laterne. Wichtige Hebel einer nachweislich wirklichen Präventionspolitik könnten sein: Hochpreispolitik (in Australien kostet ein Päckchen Zigaretten 25 Euro) in Verbindung mit steigenden Tabaksteuern, konsequente, auch Social Media einschließende, Werbeverbote, große, rauchfreie Zonen, ausreichende Dotierung von Präventionskampagnen und Maßnahmen zum Rauchstopp und zur Entwöhnung als GKV-Leistung (seit 20 Jahren gilt das als "Lifestyle-Leistung").
Die fehlende Stringenz bei der Prävention setzt sich bei der Früherkennung von Lungenkrebs fort: Für über 50 Prozent der Patienten ist inzwischen eine hochwirksame Präzisionsmedizin möglich, so Professor Jürgen Wolf vom Uniklinikum Köln. Ihr Leben kann um mehrere Jahre verlängert werden – Voraussetzung dafür ist eine frühzeitige Erkennung und Stratifizierung durch molekulare Tests. Doch die Testraten in Deutschland "sind inakzeptabel niedrig und führen zum Verlust Tausender von Lebensjahren", so Wolf.
Eine Option, Lungenkrebs früh und damit behandelbar (sogar mit Aussicht auf Heilung) zu erkennen, ist der Einsatz eines Lungenkrebs-Screenings. Die technischen Voraussetzungen sind seit mehreren Jahren gegeben. In Deutschland ist die Methode noch nicht verfügbar. Daher liegt die Detektionsrate im Stadium I/II bei nur 24 Prozent, in Ländern mit Screening bei 79 Prozent. Die Fünf-Jahres-Überlebensraten liegen bei Erkennung in frühen Stadien bis zu 20mal höher als im späten Stadium; sie erreichen bei Frauen bis zu 75 Prozent.
Zur Einführung des Screenings fehlen noch zwei Voraussetzungen, so Dr. Sebastian Schmidt von Siemens Healthineers: eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Umwelt und Verbraucherschutz – das dazu notwendige Votum des Bundesamtes für Strahlenschutz liegt seit Dezember 2021 vor – und einer Entscheidung der GKV über die Durchführung und Vergütung des Screenings; eine Empfehlung dazu hat das IQwiG im November 2020 abgegeben.
Ein weiteres Beispiel für deutsche Rückständigkeit ist die Früherkennung des Prostatakrebses, die für die Kassenpatienten allein auf der regelmäßigen digitalen Untersuchung der Prostata ab dem 45. Lebensjahr basiert. Unter Berufung auf eine IQWiG-Empfehlung lehnen die Kassen ein gezieltes PSA-Screening aus Sorge vor Überdiagnostik und Übertherapie bislang ab.
Das allerdings entspreche, so argumentierten die Professoren Peter Albers (Düsseldorf), Heinz-Peter Schlemmer (DKFZ Heidelberg) und Stefan Michel (Mannheim), nicht mehr dem Stand der Erkenntnis:
Diese Vorgehensweise, so der Urologe Stefan Michel, führe nicht zu einer steigenden Zahl von diagnostizierten Tumoren insgesamt, wohl aber zu einer frühen Detektion, die zu 80 Prozent eine Heilung ermöglicht.
Zunehmende Sorge bereiten den forschenden Onkologen bürokratische Hürden und die Praxis des föderalen Datenschutzes. Bei der Zahl klinischer Studien ist Deutschland binnen weniger Jahre weltweit von Platz 2 auf Platz 6 abgerutscht. Als Folge föderaler Inkonsistenzen seien Voten von Ethikkommissionen schwer abschätzbar. Bei multizentrischen Studien – das ist der Regelfall – müssen Dutzende von Voten eingeholt werden; das kann bis zu zwei Jahre dauern. Ferner ist aufgrund der Strahlenschutzbestimmungen eine jeweils eigene Rechtsverordnung der Bundesregierung erforderlich. Das macht Deutschland als Forschungsstandort unattraktiv.
Hinzu tritt ein, aus Sicht der Forscher völlig überzogener, Datenschutz. Das kritisiert auch die Vorsitzende des Ethikrats, Professorin Alena Buyx. Die Gewichtung von Risiken und Nutzen von systematischer (anonymisierter) Datenerhebung durch Datenschützer, große Teile der Medien und der Öffentlichkeit sei völlig verzerrt zugunsten der Risiken. Die Einstellungen in Deutschland seien irrational und von Cyber-Crime geprägt – "international wird über Deutschland gelacht; das ist desaströs", so Buyx.
Das Resümee der Onkologen ist bitter: Verbraucherschutz (oder auch Datenschutz) ist in Deutschland nicht eben Patientenschutz – und das drückt der Kölner Onkologe Professor Michael Hallek drastisch aus: "Bürokratie kann tödlich sein."