Kristina Hänel vs. §219a
Kristina Hänel spricht darüber, wer ihre Feinde und Unterstützer sind, wie sie gelernt hat mit Stress umzugehen und welchen Rat sie jungen Ärztinnen und Ärzten geben würde, die sich vielleicht in einer ähnlichen Situation befinden.
... ist eine Sammlung von Artikeln, die esanums deutsch-, italienisch-, englisch- und französischsprachige Redaktion zusammenbringt, um eine globale Perspektive auf die aktuellen Themen und Geschichten zu bieten, die das Leben von Ärzt:innen beeinflussen. In unserer ersten Serie "Ärzte und Ärztinnen in den Sozialen Medien, die digitale Frontlinie" interviewen wir Ärzte, deren tägliche Arbeit, Aktivismus oder Social-Media-Präsenz eine ganze Reihe von Reaktionen innerhalb ihrer eigenen Berufsgruppen, auf Medienplattformen und darüber hinaus ausgelöst haben. Solidarität, Belästigung, Ruhm und Drohungen sowie die menschlichen Geschichten hinter den Kontroversen stehen im Mittelpunkt dieser Interviewreihe.
Die Interviewserie ist eine Kollaboration der Redaktionsteams von esanum.de, esanum.fr, esanum.it und esanum.com. Die jeweiligen Artikel bilden die Perspektive unserer Interviewpartnerinnen und -partner ab und stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion dar. Durch Übersetzungsprozesse kann es zu Einbußen im sprachlichen Ausdruck kommen, die im jeweiligen Original nicht vorhanden sind.
Ein Blick auf die Abtreibungsdebatte, Aktivismus und Belästigung
Bußgeld für Kristina Hänel
Kristina Hänel ist eine der bekanntesten Ärztinnen in Deutschland. Ihre eindeutige Haltung zum Thema Schwangerschaftsabbruch und ihr Kampf um das in Paragraph 219a geregelte Werbeverbot, das die Veröffentlichung von Informationen zum Thema Schwangerschaftsabbruch regelt, haben ihr aber nicht nur Bekanntheit, sondern auch Anfeindungen eingebracht. Sie wurde, und wird noch immer, von Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern bekämpft, belästigt und erhält Todesdrohungen. Schwer vorzustellen, dabei nicht den Mut zu verlieren und weiter für die eigene Überzeugung und Arbeit einzustehen.
Hänel, Fachärztin für Allgemeinmedizin, wurde im November 2017 zu einer Geldstrafe von 6.000 € verurteilt, weil sie angab, in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, und auf ihrer Website Informationen über Abtreibung bereitstellte. Abtreibungsgegner und die radikale Initiative "Nie wieder" haben sie verklagt, weil sie angeblich gegen das Gesetz verstoßen hat. Der §219a des deutschen Strafgesetzbuches besagt, dass jeder, der öffentlich Abtreibungsleistungen "anbietet, ankündigt [oder] anpreist", mit Gefängnis oder einer Geldstrafe bestraft werden soll.
Vom Bußgeld zur Klage
Hänel kündigte öffentlich an, dass sie das Bußgeld nicht zahlen würde, und erklärte, dass sie ihren Fall dem Bundesverfassungsgericht vorlegen würde. Sie ließ die medizinischen Pro-Choice-Informationen auf ihrer Website, so dass der Staatsanwalt schließlich eine Klage einreichte. In Deutschland ist es durchaus üblich, dass die Staatsanwaltschaft gar keine Klage erhebt, oder der Arzt erklärt sich bereit, eine kleine Geldstrafe zu zahlen und die beanstandeten Informationen von seiner Website zu entfernen. Aber Hänel ließ sich nicht einschüchtern. Die radikale Initiative "Nie wieder" prangert Hänel bis heute öffentlich auf ihrer Website babycaust.de an, die die Abtreibungsprozedur mit dem Holocaust vergleicht und behauptet, dass die heutigen Abtreibungsprozeduren "eine Eskalation" der Nazi-Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs sind.
Eine Gesetzesreform "rettet den Tag"
Seit sie mit ihrem Fall an die Öffentlichkeit gegangen ist, ist Kristina Hänel - in den Medien oft als "Abtreibungsärztin" bezeichnet - täglich Belästigungen und Morddrohungen ausgesetzt. Eine wachsende Zahl von Bürgern mobilisiert sich, um die Abschaffung des §219a im deutschen Strafgesetzbuch zu fordern, auf dem das Urteil gegen Hänel beruht. Eine Online-Petition zur Unterstützung dieser Reform des Strafgesetzbuches, die Hänel dem Deutschen Bundestag übergeben hat, hat bereits mehr als 150.000 Unterschriften erreicht.
Der §219a wurde 1933 eingeführt und seither nicht mehr verändert. Für Kristina Hänel "ist dieses Gesetz veraltet, weshalb es kaum noch angewendet wird. Es wird nur noch benutzt, um Ärzte zu schikanieren und einzuschüchtern". Im März 2019, als der Prozess weiterging, einigte sich die Regierungskoalition in Deutschland auf eine Reform des §219a. Das Informieren über Schwangerschaftsabbrüche im Internet ist nicht mehr strafbar, aber Ärzte und Ärztinnen dürfen die Eingriffe nicht beschreiben und dürfen nicht für Schwangerschaftsabbrüche werben, um Geld zu verdienen.
Mittlerweile steht die Abschaffung des §219a fest. Bundesjustizminister Marco Buschmann betonte, man werde damit einen "unhaltbaren Zustand beenden", der es gerade denjenigen verbiete, zum Thema Schwangerschaftsabbruch aufzuklären, die dafür am besten qualifiziert seien. Kristina Hänel äußerte den Medien gegenüber, dass diese Entscheidung sie mit Freude und Genugtuung erfülle.
Kristina Hänel im Interview
Frau Hänel, als Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche vornimmt und auch auf ihrer Homepage darüber informiert hat, sind Sie die wohl bekannteste Verfechterin für das Recht auf Information und Aufklärung zum Thema Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland. Man könnte meinen, dass dies auch im Sinne der Patientinnen eine wichtige Aufgabe ist, dennoch sind Sie mit Anfeindungen und Bedrohungen konfrontiert. Können Sie unserer Ärzteschaft kurz skizzieren, wie sich diese Anfeindungen äußern und wer ihre Gegner sind?
Wir haben es hier mit einer etwas komplexeren Problematik zu tun. Grundsätzlich handelt es sich ja bei einer ungewollten Schwangerschaft und beim Schwangerschaftsabbruch um ein Dilemma, das sowohl individuell als auch gesellschaftlich von Ambivalenz und Tabu geprägt ist. Die Rechtslage verschärft die Problematik der betroffenen Klientel und der ausführenden Fachkräfte durch die Tatsache, dass nicht nur der Abbruch selbst im Strafgesetzbuch geregelt ist, sondern durch den §219a die sachlichen Informationen untersagt werden. Diesen Paragraphen machen sich seit mehr als 10 Jahren einzelne Abtreibungsgegner zunutze und haben mehrere hundert Ärztinnen und Ärzte angezeigt im Laufe der letzten Jahre. Die Gruppierung der Abtreibungsgegner reicht von fundamentalistisch religiös geprägten bis ins rechte Milieu reichenden Personen. Diese agieren teils über Anzeigen, teils über „Gehsteigbelästigungen“, Bedrohungen, politische Einflussnahme. Sie sind international vernetzt und haben teils weitere Ziele, wie zum Beispiel in der Agenda Europe, die sich die Wiederherstellung der „natürlichen Ordnung“ zum Ziel gesetzt haben.
Wann waren Sie zum ersten Mal Attacken ausgesetzt und wie haben Sie darauf reagiert?
Ich bin mit dem Thema seit über 30 Jahren vertraut. Damals begannen wir bei Pro Familia in Gießen mit der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen und hatten starke Anfeindungen durch evangelikale Abtreibungsgegner, die sich zum Beispiel vor unseren Räumen angekettet haben. Ich ließ beispielsweise meinen Namen aus dem Telefonbuch streichen, nachdem ich Drohanrufe erhalten hatte.
Sie wurden - und werden ja wahrscheinlich immer noch - massiv bedroht. Wie gehen Sie heute damit um?
Da die überwiegende Anzahl der Mails und Zuschriften, die ich erhalte, positiv und unterstützend sind, wiegt das die Hetze und die schmerzhaften Angriffe bei weitem auf. Dennoch bleibt das ständige Gefühl der Bedrohung unterschwellig immer da. Gelegentlich nehme ich auch Kontakt zur Polizei auf, aber da das meiste über das Netz kommt, ist es in der Regel schwer verfolgbar. Ich denke, ich kann das deswegen besser aushalten, weil ich nicht mehr, wie vor 30 Jahren, kleine Kinder habe. Damit bin ich nicht mehr so angreifbar.
Welche Rolle spielten Soziale Netzwerke bei den Anfeindungen, die Sie erlebt haben, aber auch bei der Unterstützung ihrer Bemühungen um Information und Aufklärung zu Schwangerschaftsabbrüchen?
Ich denke, ohne die Unterschriftenkampagne bei change.org hätte mein Fall nicht so schnell eine so große Reichweite erlebt. Es wären dann aber auch nicht so schnell die ganzen Anfeindungen gekommen. Das läuft ja parallel. Auch bin ich erst über die ganze Situation rund um meinen Prozess zu Twitter gestoßen. Es ermöglicht mir, auf schnellem Wege Informationen weiter zu geben.
Wie hat sich die Tatsache, dass Sie Ihren Standpunkt so deutlich in der Öffentlichkeit vertreten, auf Ihre alltägliche ärztliche Praxis ausgewirkt?
Das Arbeitspensum hat sich deutlich erhöht. Es kommen nicht nur einfach mehr Klientel, viele rufen aus ganz Deutschland an, weil sie in ihrer Gegend nicht weiterkommen, Unterstützung und einen Rat brauchen. Manche kommen auch mit ganz anderen Problemen als einer ungewollten Schwangerschaft zu mir, weil sie mich für eine Kämpferin halten und denken, ich könnte alle Probleme lösen. Das ist natürlich eine völlige Überhöhung und führt in der Regel zu nichts. Dazu kommt, dass sehr viele Auszubildende in meiner Praxis lernen wollen und wir dem nur begrenzt nachkommen können. Das empfinde ich als positive Entwicklung, wird doch in der Regel der Schwangerschaftsabbruch weder im Studium noch in der Weiterbildung gelehrt.
Wer hat Sie in den vergangenen Jahren unterstützt? Haben Sie Solidarität von Ärzteverbänden, öffentlichen Stellen oder Kolleg:innen erfahren?
Ich habe sehr viel Solidarität erfahren. Sehr sehr viele einzelne Kolleginnen und Kollegen aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen, auch aus dem Ausland, haben mir Mut zugesprochen, mir ihre Solidarität ausgedrückt. Der Arbeitskreis Frauengesundheit hat von Anfang an sich klar hinter die angezeigten Kolleginnen gestellt. Meine Fachgesellschaft, die DEGAM hat mir die Möglichkeit für die Veröffentlichung eines Fachartikels in der ZFA gegeben und mich immer unterstützt. Einzelne Vertreter der Berufsverbands der Frauenärzte und aus der DGGG haben mich auch unterstützt.
Was würden Sie jungen Ärzt:innen raten, wenn sie sich aus Gründen ihrer beruflichen Überzeugung mit Anfeindungen konfrontiert sehen?
Dass ich sie verstehen kann, wenn sie die Auseinandersetzung scheuen, wenn sie ihre Familien, Freunde und sich selbst schützen wollen. Dass ich sie unterstützen würde, wenn sie sich trauen, zu ihren Überzeugungen zu stehen und dort, wo sie sind, ein klein wenig die Welt in einer bessere, gerechtere, humanere verändern möchten. Dass Zufriedenheit im Beruf sehr stark davon abhängt, ob die Medizin „menschlich“ ist, die Arbeit im Team funktioniert und die Identifikation mit der Arbeit vorhanden ist. Dass es dann wahrscheinlich keinen spannenderen, befriedigenderen Beruf als unseren gibt.
esanum hat als internationales Online-Netzwerk "von Ärzten für Ärzte" eine hohe Reichweite. Was können wir tun, um Sie und Ihre Kolleg:innen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und auch darüber informieren wollen, zu unterstützen?
Dass sie die Gelegenheit nutzen, über das Thema zu informieren, ist schon Unterstützung. Des weiteren ist es immer hilfreich, wenn sachliche und seriöse Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung gestellt werden. Doctors for Choice haben zum Beispiel auf der Homepage viele wichtige Informationen zusammengetragen.