Leitlinien praktisch angewandt: „Die Rentnerin mit Vorhofflimmern, Hypertonie und Diabetes mellitus“
Eine 78-jährige Patientin mit Hypertonie und Diabetes mellitus wird mit nicht-valvulärem Vorhofflimmern (VHF<sup>♦︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎</sup>) diagnostiziert. Wie wirkt sich ihr Alter auf ihr Schlaganfallrisiko und mögliche Optionen zur Schlaganfallprävention aus?
Anhand eines fiktiven Patientinnenfalls möchten wir in dieser Artikelreihe auf eine besondere Situation in der klinischen Praxis eingehen und die Herangehensweise und mögliche leitliniengerechte Lösungen aufzeigen. Halten Sie in den nächsten Monaten Ausschau nach neuen Fällen!
Heute: „Die Rentnerin mit VTE“, Hypertonie und Diabetes mellitus“
Anamnese
Die 78-jährige Rentnerin hat neben einer Hypertonie und Diabetes mellitus keine weiteren Komorbiditäten und nimmt trotz ihres Alters aktiv am Leben teil. Als ihr das Spielen mit ihren Enkel:innen und das Fahrradfahren wegen Kurzatmigkeit und einem Gefühl von Palpitationen zunehmend schwerer fallen, zieht dies ärztliche Untersuchungen nach sich und sie wird mit VHF♦︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎ diagnostiziert.
Wie hoch ist ihr Risiko für einen Schlaganfall und wie kann sie präventiv behandelt werden?
Stratifizierung des Schlaganfallrisikos: Antikoagulation - ja oder nein?
Generell sind klinische Scores nur bedingt geeignet, Hochrisikopatient:innen vorherzusagen, die thromboembolische Ereignisse erleiden werden1, können aber eine wichtige Hilfe bei der Entscheidung sein, ob eine orale Antikoagulation indiziert ist. Da sich Risikofaktoren dynamisch entwickeln, muss das Schlaganfallrisiko laut Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) bei jeder klinischen Überprüfung neu bewertet werden.1
Die aktuelle ESC-Leitlinie empfiehlt zur Beurteilung des Schlaganfallrisikos den klinischen CHA2DS2-VASc-Score*, der auf Schlaganfall-Risikofaktoren basiert.1 Eine orale Antikoagulation wird für Frauen mit ≥ 3 Punkten und Männer mit ≥ 2 Punkten empfohlen; bei Frauen mit 2 Punkten und Männern mit einem Punkt sollte sie in Betracht gezogen werden.1
Mit ihrem Alter, Geschlecht sowie den Begleiterkrankungen Hypertonie und Diabetes mellitus liegt der CHA2DS2-VASc-Score* der Rentnerin bei 5 Punkten. Das theoretische Schlaganfallrisiko pro Jahr beträgt damit 6,7 %.2 Eine orale Antikoagulation ist in diesem Fall angezeigt und kann das Risiko für einen Schlaganfall um 64 % und die Gesamtmortalität um 26 % im Vergleich zur Kontrollgruppe oder zu Placebo reduzieren.3
Welche Antikoagulation ist im Alter geeignet?
Zur Initiation der Antikoagulation bei VHF♦︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎ werden Nicht-Vitamin-K-abhängige orale Antikoagulanzien (NOACs) als erste Wahl vor Vitamin-K-Antagonisten (VKA) für Patient:innen empfohlen, für die sich ein NOAC eignet.1 Allerdings steigen sowohl das Risiko für Schlaganfälle, als auch das Risiko für Blutungsereignisse mit dem Alter.1 Wie steht es daher um die Wirksamkeit und Sicherheit der NOACs in der älteren Patient:innenpopulation?
Eine Analyse der Daten von Patient:innen mit VHF♦︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎ im Alter von ≥ 75 Jahren aus den Zulassungsstudien der NOACs4–7 ging dieser Frage nach.8 Wegen Unterschieden der Studien in Design, Population und Definition für schwere Blutungen ist ein direkter Vergleich zwischen den einzelnen NOACs nicht möglich – die Daten können aber einen wichtigen Beitrag zur klinischen Nutzen-Risiko-Abschätzung der NOACs verglichen mit VKA leisten.
Daten zu NOACs im Alter
Die Ergebnisse der Analyse der Raten an Schlaganfällen oder systemischen Embolien und den Raten für schwere Blutungen bei Patient:innen ≥ 75 Jahren für Apixaban, Rivaroxaban, Edoxaban und Dabigatran 150 mg 2 x tgl. jeweils im Vergleich zu Warfarin standen im Einklang mit der Gesamtpopulation der jeweiligen Zulassungsstudie.4–8 Unter Apixaban reduzierten sich versus Warfarin sowohl die Raten an
- Schlaganfällen und systemischen Embolien (Hazard Ratio [HR] 0,71; 95 %-Konfidenzintervall [KI]: 0,53-0,95) als auch an
- schweren Blutungen†(HR 0,64; 95 %-KI: 0,52-0,79).8
Unter den anderen NOACs zeigten sich folgende Ergebnisse:
- Gegenüber Warfarin waren die Raten an Schlaganfällen oder systemischen Embolien vergleichbar bei Rivaroxaban (HR 0,80; 95 %-KI: 0,63‒1,02), Dabigatran 110 mg 2 x tgl. (Relative Risikoreduktion [RR] 0,88; 95 %-KI: 0,66‒1,17) sowie Edoxaban (HR 0,83; 95 %-KI: 0,67‒1,04) bzw. geringer für Dabigatran 150 mg 2 x tgl. (RR 0,67; 95 %-KI: 0,49‒0,90).
- Die Raten für schwere Blutungen waren vergleichbar mit Warfarin für Rivaroxaban(HR 1,11; 95 %-KI: 0,92‒1,34), Dabigatran 110 mg 2 x tgl.[ (RR 1,01; 95 %-KI: 0,83‒1,23) und Dabigatran 150 mg 2 x tgl.‡ (RR 1,18; 95 %-KI: 0,98‒1,42) aber geringer unter Edoxaban* (HR 0,83; 95 %-KI: 0,70‒0,99).8
Klinischer Nettonutzen von Apixaban vs. Warfarin
Durch Abzug der jährlichen Rate verursachter schwerer Blutungen (intrakranielle** plus andere schwere Blutungen) von der jährlichen Rate verhinderter thromboembolischer Ereignisse wurde in der Analyse der klinische Nettonutzen der NOACs gegenüber Warfarin berechnet.8 Mit dem größten klinischen Nettonutzen gegenüber Warfarin war Apixaban assoziiert – gefolgt von Edoxaban, Dabigatran und Rivaroxaban8, siehe Abb. 2.
Abb. 2: Klinischer Nutzen der einzelnen NOACs versus VKA bei Patient:innen ≥ 75 Jahre; adaptiert nach Schäfer et al. 20208
Fazit
Ein Alter der VHF♦︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎-Patient:innen von ≥ 75 Jahren hatte keinen Einfluss auf die Ergebnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit bei Apixaban, Rivaroxaban, Edoxaban und Dabigatran 150 mg 2 x tgl. jeweils verglichen mit Warfarin.4–8 Unter Apixaban war der klinische Nettonutzen gegenüber Warfarin am höchsten.8
*CHA2DS2-VASc: Congestive heart failure, Hypertension, Age ≥ 75, Diabetes mellitus, Stroke, Vascular disease, Age 65-74, Sex category (female)1.
†Schwere Blutung definiert nach den Kriterien der International Society on Thrombosis and Haemostasis (ISTH): tödliche Blutung, Blutung in einem kritischen Bereich oder Organ (intrakranielle, intraspinale, intraokuläre, retroperitoneale, intraartikuläre, oder Perikardblutung oder intramuskuläre Blutung mit Kompartmentsyndrom), Blutung mit einem Hämoglobinabfall ≥ 2 g/dl, Transfusionsbedarf von ≥ 2 Einheiten Erythrozytenkonzentrat/Vollblut).
‡Schwere Blutung definiert als klinisch manifeste Blutung assoziiert mit tödlichem Ausgang, Beteiligung eines kritischen anatomischen Bereichs (intrakraniell, spinal, okular, perikardial, artikulär, retroperitoneal oder intramuskulär mit Kompartmentsyndrom), Hämoglobinabfall ≥ 2 g/dL, Transfusion mit ≥ 2 Einheiten Vollblut/Erythrozytenkonzentrat oder permanente Behinderung.
§Schwere Blutung definiert als Reduktion des Hämoglobin-Levels um mindestens 2 g/dL, Transfusion von mindestens 2 Einheiten Blut oder unter Erfordernis von inotropen Substanzen, symptomatische Blutungen in kritischem Bereich oder Organ.
£ Relatives Risiko in RE-LY.
**Intrakranielle Blutungen wurden mit einem Gewichtungsfaktor multipliziert. Der Gewichtungsfaktor berücksichtigt den relativen Einfluss, bezogen auf Tod und Behinderung, einer intrakraniellen Blutung unter OAC-Therapie gegenüber dem Auftreten eines ischämischen Schlaganfalls ohne Antikoagulation.
VHF♦︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎︎: nicht-valvuläres Vorhofflimmern
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- Hart RG et al. Meta-analysis: antithrombotic therapy to prevent stroke in patients who have nonvalvular atrial fibrillation. Ann Intern Med 2007; 146(12):857–67.
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