Allen internationalen Vermittlungsbemühungen zum Trotz gab Russlands Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 den Befehl zur Invasion der Ukraine. Die Folge: Tausende tote Soldaten und Zivilsten, Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Flucht und eine sich anbahnende humanitäre Katastrophe in den umkämpften Gebieten. Die internationale ärztliche Friedensorganisation IPPNW – International Physicians for the Prevention of Nuclear War verurteilte den Angriff umgehend. Was können wir von hier aus tun, und wie real ist die Gefahr eines Atomkrieges? Darüber haben wir mit zwei in der IPPNW engagierten DGIM-Mitgliedern, Professor Dr. med. Ulrich Gottstein, dem Mitbegründer und Ehrenmitglied der deutschen Sektion und Dr. med. Lars Pohlmeier, dem stellvertretenden Vorsitzenden der deutschen Sektion, gesprochen.
Lieber Herr Dr. Pohlmeier, Putins Krieg gegen die Ukraine hat zu einer Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft auch in Deutschland geführt. Was können Ärztinnen und Ärzte aktuell konkret tun, und was tut das IPPNW bereits?
Friedens-Arbeit muss beginnen, bevor der erste Schuss fällt. Insofern haben wir über die letzten Wochen und Monate intensiv versucht, mit der humanitären Stimme aus der Ärztin*innenschaft eine Eskalation zu verhindern. Leider waren diese Stimmen zu schwach. Auch weiterhin lassen wir unsere Kontakte und das Gespräch nicht abreißen, um als internationale Organisation und national in unseren eigenen Ländern deeskalierend zu wirken.
In Deutschland ist IPPNW an vielen Demonstrationen gegen den Krieg beteiligt. Ich selbst habe zweifach auf den Großdemonstrationen in Berlin gesprochen. Wie alle ärztlichen Kolleg*innen werden wir uns im Rahmen unserer beruflichen Tätigkeit engagieren, um Flüchtlinge vor Ort mitzuversorgen. Ich habe bereits Ende Februar mit den ersten COVID-Impfungen bei ukrainischen Flüchtlingen begonnen und zudem selbst eine Familie aus der Ukraine zuhause aufgenommen. Dennoch besteht die Aufgabe der IPPNW vor allem darin, Einfluss auf politische Entscheidungsträger*innen zu nehmen, um ganz konkret zu einem Waffenstillstand beizutragen.
Lieber Herr Professor Gottstein, Sie haben sich in der heißen Phase des Kalten Krieges mit dem IPPNW über die Grenzen des „Eisernen Vorhangs“ hinweg für Verständigung zwischen Ost und West eingesetzt. Was hat sich mit der aktuellen Bedrohungslage verändert?
Als die Feindschaft zwischen der Sowjetunion und Amerika einen Höhepunkt erreicht hatte, und beide Seiten sich sogar mit einem Atomschlag bedrohten, initiierte und gründete 1980/81 der amerikanische Kardiologie Professor Bernard Lown die blockübergreifende Ärzteorganisation IPPNW. Wie konnte das gelingen?
Professor Lown überzeugte seinen sowjetischen Kollegen Professor Evgeni Chazow, Direktor des Moskauer Herzforschungsinstituts, dass insbesondere wir Ärzte die Pflicht haben, die Menschheit vor einer möglichen Zerstörung allen Lebens durch einen Atomkrieg zu warnen und deshalb der Atomwaffenrüstung Halt zu gebieten. Chazow, der auch ärztlicher Berater der sowjetischen Nomenklatura war, übernahm die Aufgabe, die Ärzteschaft der Warschauer-Pakt-Staaten in die IPPNW Mitgliedschaft zu führen. In den USA und fast allen westlichen Ländern, so auch in Deutschland Ost und West, bildeten sich rasch nationale Sektionen der IPPNW, die sich gegen atomare Bewaffnung und für Versöhnung und Frieden engagierten. Bereits 1985 erhielt die IPPNW den Friedensnobelpreis für ihre Verdienste. Mit Präsident Michail Gorbatschow entwickelte sich ein festes Vertrauensverhältnis, auch unter den Regierungen, das nun ins Gegenteil umgeschlagen ist.
Für wie real halten Sie die weit verbreitete Befürchtung eines kurz bevorstehenden Dritten Weltkriegs?
Dr. Pohlmeier: Das Risiko einer atomaren Eskalation ist sehr hoch. Zu glauben, der Einsatz von Atomwaffen sei vernunftgesteuert, ist ein sehr gefährlicher Trugschluss. Zudem gibt es ein hohes Risiko eines ungewollten Atomkrieges, sei es durch menschliches Versagen, Unfälle oder andere Fehler. Die Vorwarnzeiten eines Atomwaffen-Einsatzes sind im Falle der hohen Alarmbereitschaft so kurz, so dass Fehler innerhalb weniger Minuten nicht mehr korrigiert werden können. Da das Vernichtungsrisiko von Atomwaffen so unvorstellbar groß ist und die Existenz des gesamten europäischen Kontinents gefährdet, ist eine der Hauptforderungen an die Kriegspartei Russland und als Eskalationsmaßnahme an die NATO: die Atomwaffen sofort aus der Alarmbereitschaft zu nehmen und eine Verpflichtung abzugeben, Atomwaffen nicht einzusetzen.
Auch in Russland scheint der Widerstand gegen den Krieg zu wachsen, russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich bereits dagegen ausgesprochen. Was hören Sie von Ihren Kolleginnen und Kollegen zur aktuellen Lage im Land?
Dr. Pohlmeier: Wir sind im Kontakt mit russischen Kolleg*innen und auch mit Kolleg*innen aus anderen osteuropäischen Ländern. Im März haben Vertreter*innen der US-IPPNW auf Einladung der Russischen Akademie der Wissenschaften auf einer Moskauer Tagung gemeinsam mit Akademie-Vertreter*innen vor einer atomaren Eskalation gewarnt. Wir unterstützen bestehende Erklärungen russischer Ärzt*innen, die sich für ein Ende der Militärhandlungen aussprechen. In Forschung und Wissenschaft dürfen wir uns nicht auseinanderdividieren lassen. Es ist deshalb geplant, professionelle Kontakte zu intensivieren. Für uns als IPPNW ist Deeskalations- und Friedens-Arbeit auch eine Aufgabe der Zivilgesellschaft auf allen Ebenen. Wir wollen deshalb die ohnehin geplanten Austauschprogramme mit Russland sowie die Zusammenarbeit mit Belarus und der Ukraine fortführen, derzeit digital und sobald es möglich ist wieder im persönlichen Kontakt. Das bedeutet nicht immer Einverständnis, aber Möglichkeit zum Dialog. Das ist wichtig.
Als Reaktion auf die russische Aggression hat die Bundesregierung schnell ein 100 Milliarden Euro schweres Finanzpaket für die Bundeswehr aufgesetzt. Wie bewerten Sie diesen Schritt? Stehen wir am Anfang eines neuen Wettrüstens?
Dr. Pohlmeier: Der Angriff auf die Ukraine hat uns alle zutiefst schockiert. Wir sind dennoch gut beraten, alle Aspekte von möglichen Sicherheitsmaßnahmen sorgsam zu prüfen. Was eine angemessene militärische Verteidigungsfähigkeit bedeutet, muss gut überlegt werden. Die NATO-Staaten geben bereits 700 Milliarden Euro pro Jahr für das Militär aus. Dennoch ist die Krise im Verhältnis zu Russland so nicht vermieden worden. Notwendig ist, eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur zu erarbeiten, die die Ukraine schützt und gleichzeitig den Sicherheitsinteressen Russlands und allen anderen europäischen Staaten gerecht wird, z. B. durch Stärkung der OSZE und der UN. Sicherheitsstruktur erreichen wir am Ende nur durch überprüfbare gemeinsame Vereinbarungen über zivile Strukturen. Unsere Gesellschaften haben angesichts der dringlichen globalen Überlebensfragen wie zum Beispiel der Klimakrise weder die finanziellen und auch nicht die intellektuellen Ressourcen, jetzt eine neue Hochrüstung zu beginnen. Wir müssen uns international wieder auf gemeinsame Regelwerke und Verträge einigen. Ist das einfach? Nein. Ist das möglich? Ja. Vor allem ist es ohne Alternative.
Die medizinische und humanitäre Situation in den umkämpften Gebieten der Ukraine spitzt sich Berichten zufolge immer mehr zu. Was können wir von hier aus tun, um eine drohende Katastrophe abzuwenden?
Dr. Pohlmeier: Am Ende müssen sich alle Parteien an einen Tisch setzen, um eine diplomatische Lösung zu erreichen. Dafür gibt es keine Alternative, und deshalb dürfen wir nicht nachlassen, auf allen Ebenen und mit all unseren Kontakten und unserer öffentlichen Stimme dafür zu werben, dies immer wieder neu zu versuchen. Professor Gottstein: Dieser Angriffskrieg von Putin ist eine große Katastrophe im Völkerrecht. Sie kann nur durch den Rückzug der russischen Armee beendet werden, aber die Tragödie, die über die Bevölkerung gekommen ist, ist eine noch schrecklichere inhumane Katastrophe. Die hundertfachen Tötungen vom Kleinkind bis zum Greis, die Bombardements auf die zivilen Wohnhäuser, Schutzräume und auch Kliniken, die massenhaften Zerstörungen ganzer Stadtteile und der Infrastruktur, die Vertreibung und Flucht von Millionen von Menschen, dieses Leid und die Verzweiflung der unschuldigen Opfer werden von der Welt beobachtet und können offensichtlich nicht verhindert werden.
Was hoffe ich als jemand, dessen Vater vier Jahre im Ersten Weltkrieg an der Front war und nach der Kapitulation erfolglos und enttäuscht zurückkehrte, und ich als jemand, der den Zweiten Weltkrieg, der viel zu spät mit der Kapitulation zu Ende ging, miterlebt hat? Und, was empfehle ich als erfahrener Arzt, der seine Patienten nur mit den Mitteln therapiert, die er auch seinen liebsten Angehörigen zukommen lassen würde, wenn die Krebskrankheit im Endstadium und der Körperverfall eingetreten sind und eine Heilung nicht mehr möglich ist? Die Antwort lautet: die quälende Therapie beenden und den Kranken so viel Hilfe, wie nur möglich, zukommen zu lassen.
Hinweis der Redaktion: Das Interview ist am 22. März 2022 vor dem Hintergrund des zu dieser Zeit aktuellen Kenntnisstands entstanden. Wir bitten dies mit Blick auf die weiterhin dynamische geopolitische Situation zu beachten.