Auf der morgendlichen Fahrt zur Ambulanz nach Athi River ertönt laute Musik aus unserem schon in die Jahre gekommenen Autoradio. Ein Hauch von Gospel schwingt mit, ein klein wenig Melancholie, aber auch profunde Lebensfreude. Diese Fähigkeit zum Lachen und Fröhlichsein, ist oft alles andere als unbeschwerten Lebensumständen, verbunden mit einer tiefen Gläubigkeit (welcher Art auch immer), zeichnet die Menschen hier aus und beeindruckt mich.
Es warten schon die ersten Patienten im Innenhof der Ambulanz. Auch wenn es heute sicher wieder hektisch wird: Der Tag beginnt ruhig: Pole, Pole – langsam, langsam oder alles mit der Ruhe. Meine Dolmetscherin Elisabeth reinigt schon unser Zimmer – sie ist mein Bindeglied zu einer anderen Kultur, zum interkulturellen Verständnis.
Gleich wird eine Patientin hineingetragen, sie ist unruhig und hat überall Schmerzen. Objektivierbar ist nur eine etwas erhöhte Temperatur. Sie war am Vortag schon da. Wegen eines Stromausfalls hatten wir kaum Labor, auch das Ultraschall-Gerät funktionierte so nicht. Außer einem Hautausschlag konnte ich in der körperlichen Untersuchung nichts feststellen, bat sie aber, wiederzukommen. So ganz ohne Labor, ohne Ultraschall fühle ich mich immer noch unsicher. Ein kenianischer Kollege flüstert mir ins Ohr:„Did you test her?“ und damit meint er HIV. Das Unwohlsein, der Ausschlag, die Temperatur. Der Test ist positiv. Sie wird eine gute standardisierte HIV-Therapie in einer staatlichen Ambulanz bekommen. Bleiben werden das Stigma und die Schande. Trotz aller Aufklärung und medizinischer Behandlung bleibt HIV für die Betroffenen v. a. eines: ein dunkler Fleck und Schatten.
Das Leben zeigt sich aber von all seinen Seiten. Nun kommt eine junge Mutter mit ihrem wenige Monate alten Säugling. Das kleine Mädchen hat seit vier Tagen keinen Stuhlgang. Es lacht und ist fröhlich und der Bauch speckig und weich. Ich beruhige die Mutter und gebe ihr ein paar Ratschläge.
Kinder zu haben, ist für die allermeisten Frauen hier das größte Geschenk. Die Untersuchung von schwangeren Frauen gehört zu meiner täglichen Arbeit. Doch nicht alle Schwangerschaften sind erwünscht und Abtreibung ist bis auf wenige Ausnahmen verboten. Zwar gibt es von staatlicher Seite aus kostenlos die Dreimonatsspritze zur Verhütung, der Pearl Index ist aber mäßig und ich sehe mehrere darunter entstandene unerwünschte Schwangerschaften. Kondome sind nicht nur teuer, sondern auch unbeliebt, trotz der hohen Prävalenz an sexuell übertragbaren Erkrankungen, nicht zuletzt von HIV (in Kenia insgesamt 8 Prozent, in vielen Slums Nairobis bis zu 50 Prozent). Die Not bei einer ungewollten Schwangerschaft ist groß und oft das Tor zur Armut. Aufgrund der Gesetzeslage bleibt uns nur, die Mutter davon zu überzeugen, das Kind zumindest auszutragen und es dann zur Adoption freizugeben. Denn die allermeisten illegalen Abtreibungen werden unsauber vorgenommen und können tödlich enden. Oft fühle ich mich in dieser Beratung, die ich zusammen mit einer kenianischen Kollegin führe, hilflos.
German Doctors
Die German Doctors leisten ehrenamtliche Arzteinsätze in Entwicklungsländern und helfen dort, wo das Elend zum Alltag gehört. Die international tätige gemeinnützige Organisation entsendet unentgeltlich arbeitende Ärzt:innen in Projekte auf den Philippinen, in Indien, Bangladesch, Griechenland und Kenia. Ärzt:innen arbeiten ehrenamtlich in ihrem Jahresurlaub oder im Ruhestand für einen Zeitraum von sechs Wochen und verzichten dabei auf jegliche Vergütung. Seit 1983 wurden so über 7500 Einsätze durchgeführt. Weitere Informationen: www.german-doctors.de
Das Projekt in Athi River wurde im Frühjahr 2020 gegründet. Bis zu Beginn von 2021 waren wegen der Pandemie allein kenianische Kollegen vor Ort- auf beeindruckende Weise haben sie etwas Besonderes erschaffen. Die kenianische Chefin, Gaudencia, vermittelt einen Führungsstil, der Autorität mit Wertschätzung und Motivation in Einklang bringt. Ihr häufiges Lachen könnte nicht fröhlicher und durchdringender sein.
Schwierig sind die Situationen, in denen eine stationäre Einweisung notwendig wird. Einen Krankentransport bestellen? Unmöglich. Improvisation ist gefragt – wenn notwendig, werden Patient und Angehöriger auf ein Motorradtaxi gequetscht. Denn ohne Angehörige gibt es quasi keine Chance, stationär aufgenommen zu werden, da sie die Patienten mitversorgen. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten eingeschränkt: eine subakute vaginale Blutung mit einem Hb von 6, leidlich stabil? Wo keine Blutkonserven sind, wird auch nicht aufgenommen. Stattdessen gibt es Eisen oral. Zumindest wird der Patient mit sonographisch eindeutigem Ileus für den Folgetag von der größeren Klinik wieder zum CT einbestellt. Den noch bleibt die Tatsache: Für wirklich instabile Patienten kann der lange Weg zur Klinik tödlich sein.
Aber eine weitere Eigenschaft zeichnet die Menschen hier aus: Durchhaltevermögen. Bei der Untersuchung eines Kniegelenksergusses stoße ich auf Unerwartetes: Der Patient ist mehrere Wochen auf seiner Patellafraktur herumgelaufen. Eine wirkliche Perspektive kann ich ihm nicht bieten – er hat keine Krankenversicherung und ganz abgesehen von der zeitlichen Verzögerung, die eine OP schwierig macht, wäre sie damit jenseits aller finanziellen Möglichkeiten. Für schwerwiegende Fälle dieser Art haben wir aber Möglichkeiten einer individuellen Finanzierung.
Bedrückend arm sind viele Menschen, auch wenn sie sich für den Arztbesuch so schön herrichten, dass man hinter die Fassade blicken muss, und auch, wenn die ländliche Umgebung die Armut nicht so dramatisch wirken lässt wie in den Slums von Nairobi.
Dennoch gibt es immer wieder berührende Fälle, wie z. B. den älteren Viehhirten. Er erlitt eine Knöchelfraktur, kann nicht arbeiten und kein Geld verdienen. Den im staatlichen Krankenhaus angefertigten Gips musste er bei großen Schmerzen entfernen, einen zweiten bekam er nicht mehr kostenlos. Selbst er kommt im löchrigen Anzug zu uns und weint als wir ihm einen neuen Gips anlegen. Auch Nahrungsmittel werden für ihn organisiert. Normalerweise übernimmt das die Familie, aber wer keine solche hat und unverschuldet ins Elend kommt, hat in diesem Land verloren. Bei der Gipskontrolle lächelt der Mann. Zumindest konnten wir ihm für den Moment helfen.
Somit kann auch ich lächeln. Denn dieser unglaubliche Zusammenhalt, die Bereitschaft zu helfen und v. a. das Beste aus den schlimmsten Schicksalsschlägen zu machen, lachen in der Hoffnung auf bessere Zeiten: Das sind alles Dinge, die die Menschen vor Ort auszeichnen. Und die wir in Deutschland, in unserer Zuckerwatte, ein bisschen vergessen haben.
Dr. Friederike Lutz, AG Junge DGIM