Patient:innen mit einer schweren akuten Hirnschädigung, wie z. B. einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT), einer hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie (HIE), einer Subarachnoidalblutung (SAB), einem schweren ischämischen Hirninfarkt oder einer schweren intrazerebralen Blutung (ICB) entwickeln häufig eine schwere Bewusstseinsstörung (Disorder of Consciousness, DoC). Diese kann sich manifestieren als Koma, Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW) oder Syndrom des minimalen Bewusstseins (Minimally Conscious State, MCS).
Nach Einschätzungen der Leitliniengruppe und der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) als federführender Fachgesellschaft ist das therapeutische Prozedere bei DoC-Patient:innen in der Versorgungsrealität in Deutschland sehr heterogen und es existiert bisher keine Leitlinie. Patient:innen mit DoC gehören zu der klinisch am schwersten betroffenen Gruppe neurologischer und neurochirurgischer Patient:innen und sind aufgrund der fehlenden Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit sehr vulnerabel.
Die entstandene S3-Leitlinie soll in erster Linie therapeutische Interventionen anhand einer systematischen Literaturrecherche identifizieren und bewerten, die bei DoC-Patient:innen in einer subakuten oder chronischen Krankheitsphase (> 4 Wochen nach der Hirnschädigung) zu einer Verbesserung des Bewusstseinszustandes führen. Die Leitlinie gliedert sich in die Abschnitte Diagnostik, Therapie und Ethik.
Bei erwachsenen Patient:innen mit einer schweren Bewusstseinsstörung aufgrund einer Hirnschädigung sollte zur Diagnose des Bewusstseinszustandes (SRW, MCS, eMCS) die Coma Recovery Scale – Revised (CRS-R) verwendet werden (Empfehlungsgrad: B; schwache Empfehlung).
Die standardisierte klinische Untersuchung zur Diagnose des Bewusstseinszustandes (SRW, MCS, eMCS) soll im gesamten Behandlungsverlauf mehrfach wiederholt werden (Empfehlungsgrad: A; starke Empfehlung).
Erwachsene Patient:innen mit einer schweren Bewusstseinsstörung aufgrund einer akuten Hirnschädigung sollten eine multiprofessionelle neurologische Rehabilitationsbehandlung erhalten (Empfehlungsgrad: B⇑; schwache Empfehlung).
Deren Dauer sollte berücksichtigen, dass teilweise ein langfristiges Potenzial (Monate bis Jahre nach dem Indexereignis) zur Überwindung einer schweren Bewusstseinsstörung bestehen kann. Neben einer ausreichend langen primären stationären neurologischen Rehabilitationsbehandlung sollte man daher auch in chronischen Krankheitsphasen Rehabilitationsbehandlungen anbieten (B⇑).
Um den Bewusstseinszustand von Erwachsenen mit einer schweren Bewusstseinsstörung aufgrund einer akuten Hirnschädigung zu verbessern, sind folgende Maßnahmen empfohlen: Es sollte ein Behandlungsversuch mit Amantadin in aufsteigender Dosierung bis 400 mg täglich peroral erfolgen (B⇑) und die Patient:innen sollten, z. B. mittels Kipptisch, vertikalisiert werden (B⇑). Auch auditive Stimulation mit biographischem Bezug und Musiktherapie im Kontext einer interdisziplinären Rehabilitation sollten angewendet werden, um den Bewusstseinszustand zu verbessern (B⇑).
Um die Reaktivität auf die Umwelt zu steigern, sollte man erwachsene Patient:innen mit einer schweren Bewusstseinsstörung aufgrund einer akuten Hirnschädigung multisensorisch stimulieren und dabei insbesondere Stimuli mit hohem emotionalem bzw. autobiographischem Bezug einsetzen (B⇑).
Bei erwachsenen Patient:innen im Syndrom des minimalen Bewusstseins (MCS) aufgrund einer akuten Hirnschädigung sollte eine anodale tDCS des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC) mit einer Stromstärke von 2 mA und Stimulationsdauer von 20 min/Tag über mindestens 5 Tage angewandt werden, um den Bewusstseinszustand zu verbessern (B⇑).
Bei erwachsenen Patient:innen mit einer schweren Bewusstseinsstörung aufgrund einer akuten Hirnschädigung sollte man grundsätzlich eine Steigerung des Bewusstseinsniveaus unter einer andauernden Nutzen-Risiko-Bewertung mit Blick auf das Wohlergehen der individuellen Patient:in anstreben (B⇑).
Der vorausverfügte oder mutmaßliche Patient:innen-Wille in Bezug auf bewusstseinssteigernde Behandlungsformen samt ihrer Alternativen sollte sorgfältig und möglichst im Kontext eines begleiteten Gesprächsprozesses mit Angehörigen ermittelt werden, da er die Richtschnur für die stellvertretenden Entscheidungen darstellt (B⇑).
Zusammenfassend lassen sich unter Berücksichtigung der dargestellten Heterogenität von DoC-Patient:innen in einer subakuten oder chronischen Krankheitsphase (> 4 Wochen nach der Hirnschädigung) nur schwache Empfehlungen (Empfehlungsgrad B) zu Maßnahmen, die den Bewusstseinszustand verbessern, aussprechen.
Die Leitlinie ist eine „living Guideline“, daher sind regelmäßige Überprüfungen geplant – nächstmalig im September 2023. Die aktuelle Version ist verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/080-006.html