60 Jahre Antibabypille: mehr als ein Verhütungsmittel

Die „Pille“ wirkt – nicht nur als Kontrazeptivum – segensreich und wird gleichzeitig als Risikofaktor gefürchtet. Die gynäkologische Beratungs- und Verordnungskompetenz bringt beides unter einen Hut.

Am 18. August 2020 feiert die Antibabypille ein rundes Jubiläum: Vor 60 Jahren kam mit Enovid® (Mestranol 0,15 mg/Norethynodrel 9,85 mg) das weltweit erste orale Kontrazeptivum mit offizieller Zulassung als Verhütungsmittel in den USA auf den Markt. Das Präparat war bereits drei Jahre zuvor als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden von der FDA zugelassen worden. Die Berliner Firma Schering führte dann 1961 ihre Pille Anovlar® (Ethinylestradiol 0,05 mg/Norethisteron 4 mg) erst in Australien und anschließend in der Bundesrepublik Deutschland ein.1

Als offizielle Indikation galt die Behandlung von Menstruationsstörungen, die schwangerschaftsverhütende Wirkung war dem Fließtext im Beipackzettel zu entnehmen. Das Medikament durfte zunächst nur verheirateten Frauen mit mehreren Kindern verschrieben werden. Erst seit 1972 kann jede Frau in Deutschland die Anwendung einer hormonellen Kontrazeption frei wählen. In der DDR wurde die „Wunschkindpille“ unter der Markenbezeichnung Ovosiston® (Mestranol 0,08 mg/Chlormadinonacetat 2 mg) 1965 eingeführt und später kostenlos abgegeben.1,2

Eine der wichtigsten Innovationen des 20. Jahrhunderts

Für das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ ist die Antibabypille eine der Erfindungen, die das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben.3 Auf die „tiefgreifenden medizinischen sowie soziokulturellen Veränderungen“, die ihre Einführung weltweit mit sich brachte, wird auch im Vorwort der aktualisierten S3-Leitlinie zur hormonellen Empfängnisverhütung hingewiesen.2

Das Empfehlungswerk befasst sich mit deren Risiken, Zusatzeffekten, Wirksamkeit und unerwünschten Nebenwirkungen, gegliedert in sechs Themenbereiche: 1.) venöse thromboembolische Ereignisse (VTE), 2.) arterielle thromboembolische Ereignisse (ATE), 3. Zusatzeffekte (Einfluss auf Hirsutismus, Körpergewicht, kardiovaskuläres Erkrankungsrisiko bei Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2; Auswirkung auf Leberadenom-Risiko; Unterschiede im Nutzen-Risiko-Profil im Langzeitzyklus), 4.) Wirksamkeit (Adipositas; Notfallkontrazeption; Dysmenorrhoe; Hypermenorrhoe), 5.) Knochen/Psyche und 6.) Onkologie. Wichtige Empfehlungen der S3-Leitlinie sind in diesem Beitrag zusammengefasst.

Besonders im medialen Fokus: die Pille als Risikofaktor

Die neue S3-Leitlinie legt einen besonderen Fokus auf eine differenzierte Betrachtung des VTE-Risikos, das, teilweise weniger differenziert, auch in Fach- und Publikumsmedien immer wieder thematisiert wird. Ein aktuelles Beispiel ist der Beitrag „Die Pille als Risikofaktor? Hohe Lungenembolie-Rate bei jungen Frauen“ auf aerztezeitung.de.4 Dort wird über eine jüngst im Fachjournal Lancet Respiratory Medicine publizierte Arbeit berichtet, die sich mit der Entwicklung der Lungenembolie-bezogenen Mortalität im eurasischen Raum beschäftigte.5

Ein internationales Autorenteam unter Federführung von Ärzten des Centrums für Thrombose und Hämostase der Universitätsmedizin Mainz analysierte Daten der WHO-Mortalitätsdatenbank aus 41 Mitgliedsstaaten der Europäischen Region der WHO und stellte als Hauptbefund fest: Zwischen 2000 und 2015 hat die jährliche Lungenembolie-assoziierte Sterberate, altersstandardisiert und „ohne wesentliche geschlechtsspezifische Unterschiede“, linear von 12,8 auf 6,5 Todesfälle pro 100.000 Einwohner abgenommen.5

Dabei zeigt sich eine mit zunehmendem Alter exponentiell ansteigende Verteilungskurve. Dennoch bleibt die Lungenembolie, wie die Autoren betonen, eine relevante medizinische und soziale Belastung, die insbesondere bei Frauen im Alter zwischen 15 und 55 Jahren als ein bedeutsamer Faktor zur Gesamtmortalität beiträgt. In dieser Altersgruppe wurde eine doppelt so hohe Lungenembolie-Todesrate unter Frauen im Vergleich zu Männern ermittelt (zwischen 2013 und 2015: 8–13 vs. 2–7 pro 1.000 Todesfälle), wobei der Unterschied in westeuropäischen Ländern besonders deutlich ausfiel.5

Höhere Lungenembolie-Rate bei jüngeren Frauen

Die Gefäßmediziner verweisen auf die Übereinstimmung dieser Beobachtung mit anderen populationsbasierten Studien und vermuten, dass sich hierin „das hormon- und schwangerschaftsassoziierte Lungenembolie-Risiko“ bei jüngeren Frauen widerspiegeln könnte.5 Im ÄrzteZeitung-Beitrag wird die Angiologin Prof. Edelgard Lindhoff-Last (Frankfurt am Main) zitiert, die bei einem Webinar für Allgemeinmediziner den Studienbefund als „absolut erschreckend“ bewertete und als wahrscheinliche Ursache „vor allem die orale Kontrazeption“ verantwortlich machte. „Ich sehe täglich junge Frauen zwischen 18 und 40 Jahren mit Lungenembolien unter Pilleneinnahme“, so die Angiologin. Ihr Fazit bezüglich der Aufklärung insbesondere junger Mädchen: „Hier müssen wir noch viel tun!“4

Essenzielle Versorgungsleistung: die gynäkologische Kontrazeptionsberatung

Tatsächlich ist die individuell optimierte Kontrazeptionsberatung – inklusive einer umfassenden Risiko-Anamnese und Aufklärung über eventuelle anwendungsbezogene Risiken – eine besondere Herausforderung, die in erster Linie in die Hände erfahrener Gynäkologen gehört. Die fundierte Kenntnis des breiten Spektrums an Verhütungsmethoden und insbesondere an kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) zählt zur gynäkologischen Kernkompetenz. Wie wichtig und „systemrelevant“ diese Versorgungsleistung ist, zeigt sich gerade jetzt während der Coronavirus-Pandemie. Denn die positive Nachricht von der weltweiten Abnahme an ungewollten Schwangerschaften könnte durch gegenteilige Entwicklungen in der COVID-19-Ära mancherorts konterkariert werden.6

Wenn es um die Auswahl geeigneter oraler Kontrazeptiva (OC) geht, spielen neben dem individuellen VTE- Risiko der Anwenderin deren Präferenzen, weitere Risikofaktoren und eventuelle Beschwerden ebenfalls eine maßgebliche Rolle. In der Nutzen-Risiko-Abwägung stehen dem – bei insgesamt niedrigen absoluten Zahlen – mäßig erhöhten VTE-Risiko unter KOK nicht nur eine hohe kontrazeptive Effektivität gegenüber, sondern auch zahlreiche weitere günstige Effekte auf relevante Beschwerden und Erkrankungen (z.B. Hypermenorrhoe, Dysmenorrhoe, Hyperandrogenismus ((beide Begriffe verlinken mit Update 20-15)), Akne, PMS, Ovarialzysten, PCOS) sowie hinsichtlich des geminderten Risikos für Ovarial-, Endometrium- und Kolonkarzinome.2

Breites OC-Repertoire: mehr Chancen, weniger Risiken

Auch für den Einsatz der reinen Gestagen-Pille gibt es ein durchaus breites Indikationsspektrum. Dieses schließt u.a. bestimmte Risikokonstellationen wie etwa ein erhöhtes Thromboembolie-Risiko (auch bei Spezialfällen, wie z.B. angeborenem Herzfehler oder thrombogener Mutation), die Stillzeit und die Notfallkontrazeption mit ein.

Das umfangreiche Repertoire an oralen Kontrazeptiva erschwert zwar den Überblick, vergrößert aber die Chancen, für jede Patientin die für sie optimale – also wirksame, risikoarme und gut verträgliche – Lösung zu finden, sei es bei Erstanwendung oder Switch.

Schlechte Presse gab es für die „Pille“ schon immer. Statt um Sexualität und Moral wie in den Anfangszeiten geht es heute neben Mythen und Halbwahrheiten, etwa bezüglich Körpergewicht oder Libido, vor allem um potenzielle Risiken einerseits und den Makel eines vermeintlichen „Lifestyle-Medikaments“ oder „Beauty-Produkts“ andererseits. Die historische und aktuelle Leistungsbilanz der OC kann das allerdings nicht trüben, sie erfreuen sich hierzulande nach wie vor als Verhütungsmittel Nummer 1 großer Beliebtheit.7

Referenzen:

  1. Foth D et al. Hormonelle Kontrazeption mit östradiolhaltigen Kombinationspräparaten. Gynäkologische Endokrinologie 2013;11:162-7
  2. S3-Leitlinie Hormonelle Empfängnisverhütung. AWMF-Registernummer: 015-015. Stand: Januar 2020. Version: 1.1. Verfügbar unter: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-015.html
  3. Millennium issue: Oral contraceptives – The liberator. Science & technology. The 63Economist, Dec 23rd 1999 edition (economist.com; Zugriff am 24.07.2020)
  4. Meißner T. Die Pille als Risikofaktor? Hohe Lungenembolie-Rate bei jungen Frauen. ÄrzteZeitung, 17.05.2020 (aerztezeitung.de; Zugriff am 24.07.2020)
  5. Barco S et al. Trends in mortality related to pulmonary embolism in the European Region, 2000-15: analysis of vital registration data from the WHO Mortality Database. Lancet Respir Med 2020;8(3):277-87
  6. Kumar N. COVID 19 era: a beginning of upsurge in unwanted pregnancies, unmet need for contraception and other women related issues. Eur J Contracept Reprod Health Care 2020:1-3
  7. BZgA. Verhütungsverhalten Erwachsener 2018. Ergebnisse der Repräsentativbefragung. 1/2020 (Link zur Publikation)

Abkürzungen:
BZgA = Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
COVID-19 = Corona Virus Disease 2019
KOK = kombinierte orale Kontrazeptiva
OC = orale Kontrazeptiva
PCOS = polyzystisches Ovarialsyndrom
PMS = prämenstruelles Syndrom
WHO = Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization)