"Die stetig steigenden Patientenzahlen stellen die Neurologie vor große Herausforderungen", sagt Professor Gereon R. Fink, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), zum Auftakt des DGN-Kongresses im Rahmen der Neurowoche 2018 in Berlin. Einerseits hat der wissenschaftliche Fortschritt der Neurologie einen erheblichen Innovationsschub beschert.
So bietet das Fach heute effektive Therapien für Volkskrankheiten wie etwa Schlaganfall oder Multiple Sklerose und für schwere chronische Krankheiten wie Parkinson an, die vor 20 Jahren nicht vorstellbar waren. Andererseits führt die demografische Entwicklung zu einem eklatanten Anstieg von Patienten mit neurologischen Erkrankungen. "Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Strategie, um die Versorgung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie Demenzen, Schlaganfall oder Parkinson in unserer immer älter werdenden Gesellschaft sicherzustellen", so Finks Appell an die politischen Entscheidungsträger.
Die Neurologie als Schlüsselmedizin des 21. Jahrhunderts entwickelt sich so schnell wie keine andere medizinische Disziplin. Im vergangenen Jahr übten 7.188 Fachärztinnen und Fachärzte für Neurologie in Deutschland ihren Beruf aus – vor etwa 20 Jahren gab es hierzulande gerade einmal 1.500 Neurologen. Die Kolleginnen und Kollegen behandeln in Deutschland schon heute jährlich bis zu drei Millionen Patienten. Laut den Zahlen der World Health Organization (WHO) tragen neurologische Erkrankungen wie Migräne, Multiple Sklerose oder Schlaganfall schon heute massiv zum Krankenstand in der Bevölkerung bei und sind sehr häufig mit schwerwiegenden körperlichen, kognitiven und psychischen Einschränkungen verbunden. Die demografische Entwicklung stellt große Herausforderungen an das Fach, denn mit dem Alter erhöht sich das Risiko für viele neurologische Leiden. Im Jahr 2050 wird laut den Zahlen des Statistischen Bundesamts jeder Dritte hierzulande 65 Jahre oder älter sein. Die Zahl der über 80-Jährigen steigt von jetzt drei auf zehn Millionen an.
Die Neurologie erlebt seit einigen Jahren einen enormen Innovationsschub. So ist es jüngst gelungen, die erste Gentherapie gegen die spinale Muskelatrophie zu entwickeln. Dank innovativer Therapien können heute etwa 80 Prozent der Patienten mit Multipler Sklerose mit einer fast normalen Mobilität rechnen. Für Parkinsonpatienten stehen inzwischen Möglichkeiten zur frühen Diagnose und Behandlung zur Verfügung, die den Verlauf der Erkrankung erheblich verlangsamen und auch die Spätphasen der Erkrankung deutlich besser behandelbar machen. Beim Schlaganfall konnte die Todesrate durch die flächendeckende Einführung der Thrombolyse und der Thrombektomie in den vergangenen 20 Jahren nahezu halbiert und das Ausmaß schwerer bleibender Behinderungen deutlich reduziert werden.
Der Fortschritt des Fachs beflügelt auch die Medizintechnikindustrie. Das Segment Neurologie wächst prozentual am stärksten. Bis zum Jahr 2024 prognostizieren Branchenexperten für die neurologische Medizintechnik weltweit ein jährliches Umsatzwachstum von über neun Prozent.
"Wir brauchen in Zukunft deutlich mehr neurologisch tätige Fachärzte, um die sich stetig verbessernden Therapien für die wachsende Anzahl der Patienten flächendeckend anbieten zu können", beschreibt Fink eine der zentralen Herausforderungen seines Fachs. "Wir haben hier schon viel erreicht", betont Fink, der als DGN-Präsident rund 9.500 Mitglieder in Deutschland vertritt, darunter neben den Fachärztinnen und -ärzten auch rund 3.100 Weiterbildungsassistenten, die sich bereits für die Neurologie entschieden haben. Seit Jahren ist die Neurologie in Deutschland das am stärksten wachsende Fach in der Medizin, mit einem kontinuierlichen Zuwachs von jährlich rund sechs Prozent. Allein im vergangenen Jahr legten 541 Kollegen erfolgreich ihre Facharztprüfung ab, so viele wie nie zuvor. "Die Zahlen zeigen, dass unser Fachgebiet für den medizinischen Nachwuchs sehr attraktiv ist", so Gereon Fink. Dabei ist besonders erfreulich, dass es den jungen Medizinern um die Sache, nicht ums Geld geht: Neurologen liegen in der Liste der Gesamthonorare gemäß den Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung lediglich auf Platz elf.
Ein wichtiger Motivator, sich für eine Facharztausbildung in der Neurologie zu entscheiden, seien die enorme Innovationskraft und gesellschaftliche Relevanz des Fachs, ist Fink überzeugt. Die Neurologie hat sich in nur 20 Jahren von einer vorwiegend diagnostizierenden zu einer therapierenden Medizin entwickelt, und damit zu einer der wichtigsten Säulen in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. "Das Fach hat das Potenzial, bisher unheilbare, chronische, schwere, persönlichkeitsverändernde, altersbedingte, weit verbreitete 'Volkskrankheiten' und tausende Seltene Erkrankungen zu erforschen, zu behandeln, aufzuhalten und in immer mehr Fällen auch zu heilen", so Fink. Dafür brauche man die besten Köpfe und fünf Jahre intensive Ausbildung in der Neurologie – sowie eine Modernisierung der Weiterbildungsordnung. "Und einen gesellschaftlichen Plan, um eine bestmögliche neuromedizinische Versorgung von Patienten mit Erkrankungen des Nervensystems in der alternden Gesellschaft sicherzustellen", so Fink.
Die DGN wünscht sich von der Politik eine stärkere Förderung der neuromedizinischen Forschung, einen stärkeren Fokus auf Prävention und Früherkennung sowie tragfähige Lösungen für den Pflegenotstand unter Berücksichtigung der fachspezifischen Besonderheiten. "Unser Ziel ist: die bestmögliche Versorgung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen auch in Zukunft sicherzustellen", sagt Fink.
Quelle: DGN