Nataly Bleuel hat lange mit sich gerungen, ob sie die ganz privaten Dinge wirklich verraten will. Die Berliner Journalistin, Ende 40, entschied sich dafür: Sie packte das, was sie umtreibt als berufstätige Mutter, Partnerin, Karrierefrau und smartphone-geplagte Großstädterin in ihr Buch “Ich will raus hier”. Darin erzählt sie, wie sie sich dem Druck entzieht, perfekt in all diesen Rollen zu funktionieren, in Turbo-Geschwindigkeit zu leben und ständig mobil erreichbar zu sein. “Ich habe ein irrsinnig großes Fass aufgemacht und alles aufgeschrieben, was mir durch den Kopf geht”, sagt sie und lacht auf ihre auffällig kernige Art.
Dabei möchte Bleuel in dem “erzählenden Essay”, wie sie es nennt, nicht nur eine Einzelfall-Beschreibung liefern, sondern eine “Anstiftung zum guten Leben”. Das Themenfeld, in dem sie sich tummelt, ist jedenfalls angesagt.
Dort gibt es zum einen reichlich “Slow-Down”-Ratgeber, wie man den eigenen Alltag ohne Hetze und Stress bewältigt. Und zum anderen politisch-gesellschaftliche Analysen, die sich mit Trends der Digitalisierung im Großen, mit den Krisen der Wirtschaft sowie mit Widerstand dagegen auseinandersetzen: etwa des Sozialpsychologen Harald Welzer (“Selbst denken”/2013 und “Autonomie”/2015 – mit Michael Pauen). Oder des Italieners Franco Berardi (“Der Aufstand”/2015).
Auch Mischformen finden sich, die Gesellschaftsanalyse mit einem Ratgeber-ABC verbinden, wie das Plädoyer für ein “menschliches Leben in der digitalen Welt” des Berliner Autors Andre Wilkens – Titel: “Analog ist das neue Bio”.
Bleuel geht hier den subjektivsten Weg: Im Einstieg beschreibt sie packend, wie ein schwerer Autounfall ihrer Kinder sie emotional extrem anfasste. Dieses Erlebnis sei zwar nicht der Auslöser ihres Wunsches nach Veränderung gewesen. Aber der Vorfall habe ihr mehr Klarheit gebracht: “Ich will widerstehen und eigen sein und verrückt, ich will tanzen, singen, lachen, ich will nicht dauernd haben wollen, ich will Verbotenes tun und Ungesundes…”, heißt es im Buch.
“Die Hauptthese ist, dass wir uns in ein System eingelebt haben, das von uns immer weiter, immer höher, immer mehr verlangt und auf maximalen Gewinn aus ist”, fasst sie im Gespräch zusammen. “Und wir müssen versuchen, da rauszukommen, weil es uns auf Dauer krank und unzufrieden macht.”
So erzählt Bleuel, wie sie aus ihrem behüteten Berliner Wohnquartier rausgeht in ärmere Stadtviertel. Dass sie, statt Freunden oder Nachbarn nur Mails zu schreiben, mehr Besuche unternimmt. Dass sie allein reist, um starke Erfahrungen zu sammeln. Die schmutzige Wäsche mal liegen lässt – und sich lieber etwas gönnt, worauf sie Lust hat.
“Das ist überhaupt nicht radikal. Ganz aussteigen geht nicht, glaube ich”, sagt Nataly Bleuel. “Und ich will ja auch nicht komplett aussteigen. Ich will teilhaben an der Gesellschaft, in der ich großgeworden bin. Ich will an allen Rädchen in meinem Leben drehen und jeden Tag genau überlegen, wie ich etwas denn genau mache.”
Auch wenn die Autorin kein “Frauenbuch” schreiben wollte, ist ihre Perspektive an vielen Stellen eine sehr weibliche. So stellt zum Beispiel Professor Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen (Hamburg) als Trend heraus: “Viele Frauen haben zunehmend das Gefühl, weder sich selbst noch ihrem Umfeld gerecht zu werden.” Und viele lebten nach dem Motto: Mehr tun in gleicher Zeit – “Da sind Stress und Zerrissenheit, Frustration und Erschöpfung nicht weit.” Insofern ist die Ausgangslage der Autorin vermutlich typisch für viele, ihre Entscheidung zum “Raus hier” aber noch lange kein Breitenphänomen.
Trendforscher Sven Gabor Janszky (Leipzig) weist darauf hin, dass jeder Trend automatisch seinen Gegentrend hervorruft, auch weil manche Menschen nicht zur Masse gehören wollten. “Entsprechend ruft der derzeit stärkste Massentrend dieser Tage, die Digitalisierung und Vernetzung, ganz automatisch einen Gegentrend zur Entschleunigung, Langsamkeit und zu haptischen Erlebnissen hervor”, erläutert er.
In diese Richtung passt auch Andre Wilkens’ “Analog”-Buch. Darin beschreibt er unterhaltsam, wie Computer, Roboter und internetfähige Handys unser Leben – von der Kommunikation übers Einkaufen, die Arbeit bis zum Spielen – verändert haben. Wilkens behauptet, dass “Nebenwirkungen” wie Beschleunigung und weniger direkte Kontakte eine Gegenbewegung hin zu mehr “analogen” Tätigkeiten hervorrufen würden. Das werde ähnlich laufen wie bei der industriellen Massenproduktion von Nahrung, die als Nischentrend eine “Bio”-Welle erzeugt habe.
Manche seiner Tipps in ABC-Form am Schluss des Buches passen dann wieder zu Bleuels Ansätzen: wieder mal Briefe mit der Hand (analog) schreiben statt als E-Mail (digital). Querdenken. Einen Spieleabend mit Freunden zu Hause machen – ohne Computer. Ein Unterschied ist, dass Wilkens viel stärker als Bleuel über politische Zusammenhänge spricht und auf eine neue Bewegung hofft.
Text: dpa /fw