1970 stellte das Landgericht Aachen den Strafprozess gegen Mitarbeiter des Pharma-Unternehmens Grünenthal ein. Dabei ging es um schwere Missbildungen Tausender Kinder durch ein Arzneimittel. Der Contergan-Skandal gehört zur Geschichte der Bundesrepublik - und wirkt noch immer nach.
Vor 50 Jahren ging der Contergan-Prozess abrupt zu Ende: Das Landgericht Aachen stellte am 18. Dezember 1970 den Strafprozess gegen den Chef und acht MitarbeiterInnen des damaligen Contergan-Herstellers Grünenthal ein. Nach zweieinhalb Jahren Dauer war zuvor ein Ende nicht absehbar gewesen.
Jetzt aber hatten die Eltern der mit schweren Missbildungen geborenen "Contergan-Kinder" einen Vergleich geschlossen: Grünenthal zahlte 100 Millionen D-Mark (51,13 Millionen Euro). Die Aufarbeitung des Arzneimittel-Skandals mit noch etwa 2.500 in Deutschland lebenden Geschädigten dauert immer noch an.
Heute sind die einstigen "Contergan-Kinder" um die 60 Jahre alt. Viele von ihnen wurden mit verkürzten Gliedmaßen geboren. Ihre Mütter hatten in der Schwangerschaft das seit 1957 erhältliche, rezeptfreie Schlafmittel Contergan eingenommen. Dieses thalidomidhaltige Medikament wurde im November 1961 aus dem Handel genommen.
Das Geld von Grünenthal ging in eine Stiftung, der Bund zahlte ebenfalls 100 Millionen D-Mark, doch die Summe ist längst aufgebraucht. Seit 1997 kommen die Mittel für die Renten aus dem Bundeshaushalt. Eine deutliche Erhöhung gab es 2013. Das erleichterte die Situation für viele. Anlass war ein Gutachten über die körperlichen Folgeschäden. Die Lebenserwartung der Geschädigten ist viel länger als zunächst angenommen.
Es gebe nun auch pauschale Auszahlungen und damit Planungssicherheit, berichtet Georg Löwenhauser, der Vorsitzende des Bundesverbands Contergangeschädigter, der etwa 80 Prozent der Betroffenen vertritt. Sie seien den Bundestagsabgeordneten dankbar für die per Gesetz beschlossenen Änderungen. Auch der Software-Entwickler konnte vor einigen Jahren in Rente gehen. "Mein Körper hat sich regeneriert", erzählt der 59-Jährige. Er hat kurze Arme.
Die jahrzehntelange starke Belastung von Gelenken, Muskeln und Bändern ist merkbar: Wer eine Tasse immer mit den Zehen zum Mund heben muss, weil er keine Arme hat, strapaziert die Gelenke. "Wir leben mit einem Körper, der eigentlich 20 Jahre älter ist", sagt Löwenhauser. Die Tätigkeiten im Alltag dauern länger. "Viele von uns brauchen Hilfe: beim Anziehen, Einkaufen, auch im Urlaub", sagt er.
Als Folge des Stiftungsgesetzes sind Ansprüche gegen Grünenthal erloschen. Manche wollten bis heute nichts zu tun haben mit dem Pharmaunternehmen, berichtet Löwenhauser. Doch er sagt auch, dass Grünenthal inzwischen in einer Stiftung ergänzend Hilfen anbietet. Die MitarbeiterInnen arbeiteten "extrem unbürokratisch und schnell": Etwa wenn ein Auto oder eine Küche behindertengerecht umgebaut werden müssen.
Als Konsequenz aus dem Contergan-Skandal wurde in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik ein neues Arzneimittelrecht geschaffen, das viel mehr von Kontrolle und Überwachung geprägt ist. Zuvor gab es keine präventive Prüfung auf Sicherheit und Wirksamkeit der eingesetzten Stoffe. Neue Arzneimittel mussten dem damaligen Bundesgesundheitsamt ohne eine vorherige Prüfung nur angezeigt werden. Heute - auch in der Corona-Pandemie ist das deutlich geworden - gibt es gesetzliche Auflagen zur Überwachung. Diese enden nicht mit der Zulassung eines Präparats. Sobald ein Medikament an Menschen getestet wird, muss das Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eingeschaltet werden.
2012 bat Grünenthal die Betroffenen um Entschuldigung - für das lange Schweigen. Im selben Jahr wurde die "Grünenthal-Stiftung zur Unterstützung von Thalidomidbetroffenen" gegründet. 2016 entschuldigte sich das Land NRW bei den Contergan-Opfern für die Rolle der Behörden. Das Land hätte mutiger, hartnäckiger und schneller handeln müssen, nachdem Anfang der 1960er das Ausmaß der Schäden durch das Medikament bekannt geworden sei, sagte die damalige Gesundheitsministerin, Barbara Steffens (Grüne).
Die Betroffenen wünschen sich mehr Mitsprache in der Contergan-Stiftung, die sie betreut. Im Stiftungsrat sitzen drei VertreterInnen von Bundesministerien, zwei Contergan-Geschädigte, aber keine Ärztin und kein Arzt. Die Geschädigten regen seit langem eine Studie an über Gefäße, die in ihren Körpern oft anders verlaufen. "Wir haben zu oft den Eindruck, es wird über unseren Kopf hinweg entschieden", sagt Löwenhauser.