Interview mit Jana Meister, Fachanwältin für Versicherungsrecht in der Kanzlei Gansel Rechtsanwälte, Berlin
Bei gut jedem fünften Antrag auf Leistungen einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung treten Probleme auf. Absolute Zahlen nennt der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft nicht, wodurch sich keine Aussagen zum Ausmaß des Problems treffen lassen. Als Hauptgründe gelten, dass der abgesicherte BU-Grad von i.d.R. 50 Prozent nicht erreicht wird und dass die vorvertraglich vereinbarte Anzeigepflicht verletzt worden ist bzw. die Versicherung Verträge anficht. Wenn Versicherte klagen oder nach einer außergerichtlichen Lösung suchen, werden auch ärztliche Diagnosen, Dokumentationen und Prognosen geprüft.
esanum: Frau Meister, welche Fragen der Gesundheitsprüfung vor Versicherungsabschluss erweisen sich im Nachhinein als besonders strittig?
Meister: Hier lässt sich keine Rangfolge erkennen. Alle fehlerhaften und unvollständigen Angaben können noch bis zu zehn Jahre später für den Versicherungsnehmer zu einem Problem werden, denn solange können Versicherungen den Vertrag anfechten, wodurch die gezahlten Beiträge verfallen und die Leistungsansprüche erlöschen würden. Maßgeblich sind die konkreten schriftlichen Gesundheitsfragen, mit denen die Versicherungen ihr Risiko kalkulieren. Offene Fragen zu sonstigen versicherungsrelevanten Umständen, sind seit der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) 2008 nicht mehr zulässig, da hierdurch die Abschätzung des Versicherungsrisikos auf den Antragsteller verlagern wird.
esanum: Welche Rolle spielen Verdachtsdiagnosen aus versicherungsrechtlicher Sicht?
Meister: Ob Versicherungsnehmer eine Verdachtsdiagnose angeben müssen, hängt sehr von dem Wortlaut der Gesundheitsprüfung ab. Wenn nach Krankheiten gefragt wird, brauchen sie diese nicht angegeben. Anders ist es, wenn die Frage auf Arztkontakte und Untersuchungen in den vergangenen fünf Jahren zielt, da hierzu auch die Abklärung einer Verdachtsdiagnose zählt. Meistens fragen die Versicherungen nach Beschwerden, um sich möglichst breit abzusichern. Über die Konsequenzen von falschen Auskünften muss die Versicherung vorab in Textform belehren. Falls die Versicherung ihrer Belehrungspflicht nicht nachgekommen ist, wird sie mir ihrer Anfechtung keinen Erfolg haben.
esanum: Welche Anzeigepflicht besteht nach Abschluss der Versicherung?
Meister: Später sind keine weiteren Angaben nötig, weder zu neuen Krankheiten noch zu beruflichen Veränderungen. Für die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente ist entscheidend, welchen Beruf der Versicherte zuletzt ausgeübt hat, für Einordnung in eine Risikogruppe zur Beitragsbemessung hingegen der Beruf bei Vertragsabschluss. Diese Regelung ist mal für den Versicherungsnehmer, mal für die Versicherung von Vorteil.
esanum: Welche Relevanz hat die Patientenakte, wenn es zu einer Anfechtung kommt?
Meister: Die Patientenakte ist meist informativer als die Leistungsstatistik der Krankenkasse. Letztgenannte informiert über Arztkontakte, Diagnoseschlüssel und Arbeitsunfähigkeit. In der Akte können auch Anlässe und Beschwerden dokumentiert werden. Diese Angaben werden besonders dann relevant, wenn sich die Gesundheitsprüfung bei Vertragsabschluss auf Beschwerden bezogen hat. Kritisch kann zum Beispiel eine Krankschreibung nach einem Trauerfall in der Familie sein. Lässt sich aus einer Erschöpfung bereits eine (leichte) Depression ableiten? Welche Begründung dokumentiert der Arzt? Unter Umständen macht die Versicherung geltend, dass der Versicherungsnehmer nur unzureichend über seinen gesundheitlichen Status informiert hat, selbst wenn er von seiner angeblichen Depression nicht wusste.
esanum: Nur wenige Patienten nehmen Einsicht in ihre Akte. Wie können Versicherte im Zweifel glaubhaft machen, dass sie die Gesundheitsprüfung wahrheitsgemäß beantwortet haben?
Meister: Das ist schwer. Rückwirkend lässt sich kaum beurteilen, ob der strittige Eintrag tatsächlich richtig war. Die Patientenakte gilt als Dokument mit Beweiskraft. Versicherungsnehmer sollten daher vor Vertragsabschluss eine Leistungsstatistik bei der Krankenkasse anfordern und ihr Recht auf Akteneinsicht wahrnehmen und ggf. bei ihm bislang unbekannten Diagnosen direkt nachfragen. Spätere Korrekturen sind äußerst selten, auch weil die Erinnerung verblasst. In einem Fall hat ein Arzt jedoch bestätigt, nur deswegen eine Depression dokumentiert zu haben, um einem quasi gesunden Patienten ein Schlafmittel verordnen zu können. Der Patient arbeitete in der Nacht und konnte zeitweise wegen Baustellenlärm am Tag nicht schlafen.
esanum: Für den Leistungsbezug ist die Prognose des Arztes maßgeblich. Wie können Ärzte zu einer sicheren Entscheidung gelangen?
Meister: Anders als bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente lässt sich der Anspruch auf eine private BU-Rente nicht auf den Stundenumfang herunterbrechen. Maßgeblich ist das Leistungsvermögen bezogen auf den zuletzt ausgeübten Beruf. Eine Berufsunfähigkeit besteht auch dann, wenn eine maßgebliche Teiltätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann, selbst wenn die übrigen Teilleistungen, die darauf aufbauen, 80 Prozent des Stundenumfangs ausmachen. Meinen Mandaten empfehle ich eine ausführliche Tätigkeitsbeschreibung eines Arbeitstages oder einer Arbeitswoche zu erstellen, in der sie auch ihre psychische und körperliche Beanspruchung darlegen. Der Arzt kann sich so ein genaueres Bild machen und einschätzen, welche Tätigkeiten der Versicherungsnehmer noch in welchem Umfang ausüben kann.
esanum: Was können Ärzte tun?
Meister: Ob eine BU-Rente bewilligt wird, hängt maßgeblich von der Beurteilung des Arztes ab. Ärzte sollten sich daher Zeit nehmen und den Fragebogen der Versicherung vollständig und ausführlich beantworten. Für den Patienten geht es um existenzielle Fragen, nämlich die Sicherung seines Lebensunterhalts. Falls die vorgegebenen Fragen und Antwortkategorien unzureichend sind, um den gesundheitliche Status des Patienten darzulegen, können sie ergänzende Angaben handschriftlich hinzufügen. Auch dies ist hilfreich, um zu einer sachgerechten Entscheidung zu kommen.