Wunder kann die "Blindenbrille" nicht vollbringen - wohl aber den Alltag von blinden und sehbehinderten Menschen nachhaltig verändern. Doch nicht alle Betroffenen profitieren vom Fortschritt der Technik.
Herbert Demmel ist 86 Jahre alt und blind. Wegen seiner Behinderung musste er lange auf eine Sache verzichten, die er so gerne genossen hätte: Neuerscheinungen der Literatur. Die wenigsten Bücher erscheinen in Blindenschrift und wenn, dann erst lange Zeit später. Und so war Demmel der Zugang zur aktuellen Literatur verbaut. War. Denn nun nutzt er ein kleines elektronisches Hilfsmittel. Das scannt, geklippt an einen Brillenbügel, den Text ab und liest ihn Zeile für Zeile vor.
Die Idee, Vorlesegeräte für Menschen zu entwickeln, die selbst keinen Text erkennen können, ist nicht neu. Zahlreiche Programme und Apparate lesen von Computer- oder Handybildschirmen oder von Papier vor. Klein und damit mobil sei allerdings derzeit nur ein Produkt, sagt Gerhard Frühwald, Optiker und Hilfsmittelberater beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund: die sogenannte OrCam, die auch Demmel nutzt.
Das Gerät können Menschen auch außerhalb der eigenen vier Wände verwenden - zumindest in der Theorie. Es misst zehn Zentimenter Länge, hat ein Gewicht von 22 Gramm und besteht aus einem Mikroprozessor, einer Kamera sowie einem Lautsprecher. Aktiviert mit einer Handbewegung oder per Knopfdruck, liest das Gerät Texte von nahezu allen Oberflächen vor, erkennt Gesichter, Gegenstände, Farben und auch Geldscheine.
Hinter dem Produkt steht Ziv Aviram, Mitbegründer der israelischen Firma, die die Geräte herstellt. Er wirbt damit, dass die OrCam den Alltag eines Sehbehinderten und Blinden leichter mache. Schnell ans Bücherregal, ein Wisch mit der Hand und man erfahre über den Lautsprecher, welches Exemplar man in der Hand hält. Auch im Straßenverkehr soll das Gerät helfen: Ein Blick in Richtung Ampel und die OrCam sage, ob rot, gelb oder grün ist.
Zumindest Letzteres sieht Frühwald aber als "utopisch" an: "Um zu erkennen, welche Farbe die Ampel zeigt, muss ich erst einmal wissen, wo der Masten steht." Das könnten voll blinde Menschen im Zweifelsfall nicht - zumindest nicht ohne Assistenz.
Das gesteht auch Aviram ein: "Unser Produkt ist mehr für Sehbehinderte geeignet, gerade, wenn es um Mobilität geht. Aber auch Blinde profitieren von der OrCam. Gespräche mit Hunderten Betroffenen während der Entwicklung haben ergeben, dass es vielen vor allem ums Lesen geht." Das bestätigt Frühwald. Die Menschen kämen wegen der OrCam zu ihm, um zum Beispiel endlich wieder Zeitung lesen zu können. Die OrCam draußen zu nutzen, sei für viele zweitrangig.
Laut bayerischem Sozialministerium waren Ende 2016 über 60 Prozent der mehr als 13000 Blindengeldempfänger im Freistaat 65 Jahre oder älter. "Ältere Menschen haben oft Berührungsängste mit so modernen Bedienungsoberflächen", sagt Frühwald. Damit falle die OrCam als Hilfsmittel für diese Menschen oft weg.
Laut Hersteller kostet das neue Modell etwa 4500 Euro. Krankenkassen übernehmen die Kosten unter bestimmten Voraussetzungen. So hat etwa die AOK Bayern seit Beginn des Jahres laut einer Sprecherin viermal einen entsprechenden Antrag für das Hilfsmittel bewilligt.
Demmel nutzt bewusst nicht alle Funktionen der OrCam. Auf die Gesichtserkennung verzichtet er zum Beispiel, da hat er Bedenken - auch wenn Aviram versichert, dass die Daten sicher seien. Die OrCam mit einer Internetverbindung auszustatten sei "keine technische Barriere, sondern eine gesellschaftliche", so Aviram. Die Entscheidung überlasse er jedem Kunden selbst. Dann aber wäre es nicht nur möglich, dass sich das Gerät merkt, welche Gerichte man im Restaurant gerne bestellt. Es könnte laut Hersteller auch die Telefonrechnung erkennen - und gleich bezahlen.
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