Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt Booster-Impfungen vorerst im engen Rahmen: für Menschen ab 70 Jahren, vulnerable und besonders exponierte Personen- und Berufsgruppen. Bundesgesundheitsminister Spahn dagegen setzt sich für Impfauffrischungen für alle ein. Diese Unstimmigkeit erzeugt Unsicherheit und unrealistische Erwartungen. Die Ärztekammer Schleswig-Holstein (ÄKSH) ist besorgt, beobachtet zunehmend Frust und Unzufriedenheit in den Praxen – bei Patient:innen, Ärzt:innen und Medizinischen Fachangestellten. Prof. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, dazu im esanum-Interview.
esanum: Prof. Herrmann, Pleiten, Pech und Pannen – kann man die aktuelle Impfsituation so zusammenfassen?
Herrmann: Ganz so würde ich es nicht ausdrücken. Wir haben derzeit große Probleme im niedergelassenen Bereich. Es gibt einen Riesenunterscheid zum Sommer. Damals konnten sich die Praxen auf die Corona-Impfungen konzentrieren, weil sie mit anderen Patientinnen nicht so sehr gefüllt waren. Jetzt steigt die Krankheitslast, wir sehen viele Infekte der oberen Atemwege, die mit Corona nichts zu tun haben. Und die Corona-Impfungen sind eine zusätzliche Belastung.
esanum: Was genau macht es so schwierig, viele Menschen ein drittes Mal gegen Corona zu impfen?
Herrmann: Es gibt große Unklarheiten darüber, wer jetzt als erstes die Booster-Impfung bekommen soll. Es rufen sehr viele Menschen an, die sofort eine dritte Impfung haben wollen. Manche sagen: Heute auf den Tag vor sechs Monaten habe ich meine zweite Impfung bekommen. Ich will heute die dritte haben. Da ist sehr viel Gesprächsbedarf. Diese Gespräche verstopfen die Kommunikationswege. Viele Arztpraxen gehen gar nicht mehr ans Telefon, dort läuft immer der Anrufbeantworter. Das ist natürlich ärgerlich für Patientinnen und Patienten. Aber es geht eben nicht, dass eine MFA jedem zweiten Anrufer zehn Minuten lang erklären muss, warum er sich noch etwas gedulden muss.
esanum: Auch die Ärztekammer Berlin zeigt sich aktuell besorgt über Angriffe auf impfende Ärzte. Wie beschreiben Sie die Situation vor Ort?
Herrmann: Wir bekommen immer mehr Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen, die sagen: Wir sind am Ende. Wir schaffen es nicht.
Da ist auf Seiten der Patienten so viel Aggression im Spiel wie wir es noch nie erlebt haben - verbale Übergriffe, Ungeduld, Unverständnis. MFAs geben zunehmend entnervt auf, die Krankheitsraten unter ihnen nehmen zu. Manche wechseln den Arbeitgeber, um nicht mehr in der ersten Linie zu stehen. Und einige geben den Beruf ganz auf.
esanum: Die ÄKSH ruft zur Solidarität auf und spricht sich für eine geordnete Impfkampagne für die Auffrischungs- sowie noch ausstehende Erst- und Zweitimpfungen aus. Was fordern Sie konkret? Wie soll das aussehen?
Herrmann: Eine gewisse Priorisierung sollte klar sein. Ich möchte die zuerst impfen, die im Januar, Februar, März schon frühzeitig in den Impfzentren geimpft wurden, welche ja jetzt kaum mehr zur Verfügung stehen.
Die Kassenärztliche Vereinigung hat gesagt, das schaffen die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen allein. Aber das ist, wie wir sehen, nicht der Fall. In besten Zeiten, also im Sommer, haben die Niedergelassenen pro Tag 400 000 Impfungen gemacht. Wir brauchen aber rund 30 Millionen Impfungen bis zum Ende des Jahres - Booster und solche, die sich doch noch für die Erstimpfung entscheiden. Und schnell weiter impfen ist nun einmal die beste Chance, die vierte Welle glimpflich abzufangen.
esanum: Wie kann die Impfkampagne nun besser geordnet vonstatten gehen?
Herrmann: Wir fordern: Öffnet die Impftore! Werft den Impfturbo an! Die Praxen sind am Limit. Also: regional Impfzentren wieder öffnen, mobile Impfteams, überall Impfaktionen, Betriebsärzte sollen mitmachen. Die Krankenhäuser sollen impfen. Warum kann nicht ein Krankenhaus auch mal am Samstag eine Impfaktion für die Bevölkerung machen? Ich denke, die Kolleginnen und Kollegen würden das gern tun.
esanum: Bei wem liegt nun der Ball? Wer soll sich bewegen?
Herrmann: Das ist primär Ländersache. In Schleswig-Holstein haben der Ministerpräsident und sein Gesundheitsminister schon verkündet, dass die Impfzentren wieder öffnen sollen. Weitere Impfstellen werden eingerichtet.
esanum: Wie können Sie als Ärztekammer für etwas Entspannung sorgen?
Herrmann: Wir werden Infomaterial herausgeben. Die Ärztekammer Niedersachsen hat schon Material entwickelt, das man in den Praxen auslegen kann, wo darauf hingewiesen wird, wie die Abläufe sinnvollerweise sind. Wir brauchen mehr öffentliche Aufklärung – auch in den Medien. Jetzt sind erstmal die vulnerablen Gruppen dran. Und dann werden die anderen nach und nach geimpft.
Man könnte auch bei der Bürokratie entlasten, was die Aufklärung zur dritten Impfung betrifft. Diese Menschen sind ja schon zweimal geimpft worden und wissen weitgehend Bescheid. Auch das Bestellen der Impfstoffe muss praxisfreundlicher werden. Gebraucht werden kürzere Lieferabstände, nicht nur alle zwei Wochen. Die Forderung nach Einzelgebinden sehe ich eher skeptisch: das würde die sechsfache Menge an Müll bedeuten.
esanum: Wie stehen Sie zu einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen?
Herrmann: Dazu hat sich meine Einstellung vor dem Hintergrund der Pandemieentwicklung geändert. Da nun die Infektionszahlen deutlich ansteigen, müssen wir die vulnerablen Gruppen wieder mehr in den Blick nehmen: Patientinnen und Patienten, Pflegeheimbewohner. Sie alle brauchen eine deutlich höhere Sicherheit durch diejenigen, die ihnen als Ärztin und Arzt, als Pflegende, als Therapeutin, im Transportdienst direkt gegenübertreten. Das betrifft auch Kindertagesstätten und Schulen, wo es einen relativ engen Kontakt gibt. Und da ist es jetzt sinnvoll zu fordern, dass dieses Personal geimpft ist.
Dank Impfungen kennen wir keine Pocken, keine Poliomyelitis mehr. Das werden wir bei SARS-CoV-2 nicht schaffen. Es gibt aber einen sehr guten Schutz, auch wenn zehn Prozent der Geimpften keinen Antikörperschutz haben. Hinzu kommt, dass die Impfwirkung nach einer gewissen Zeit nachlässt – deshalb ja die Booster-Impfung. In bestimmten Berufsgruppen bin ich daher jetzt für eine Impfpflicht.
esanum: Fürchten Sie nicht, dass dann viele der ohnehin knappen Pflegekräfte aus dem Beruf abwandern?
Herrmann: Man schätzt im Praxisbereich und in den Krankenhäusern eine Gruppe von fünf bis 10 Prozent, die ungeimpft sind. In manchen Altenheimen liegt diese Rate sogar bei bis zu 50 Prozent. Es wird aber auch über Einzelfälle von Intensivmitarbeitern berichtet, die sich nicht impfen lassen.
Nach dem, was ich höre, geht es aber meistens eher um Unsicherheiten, wie etwa Langzeitfolgen der Impfung etc. Und da habe ich die Hoffnung, dass man diese Kolleginnen und Kollegen jetzt doch noch überzeugen kann. Eine Pflicht könnte sie von der für sie schweren Entscheidung sogar entlasten.
Wer sich dann trotz einer Pflicht nicht impfen lässt, muss in einen patientenferneren Bereich eingesetzt werden oder für sich individuell die Entscheidung treffen, wenigstens während der Pandemie nicht am Patienten tätig zu sein.