esanum: Frau Prof. Rubin, das Stichwort Ernährung steht implizit im Motto der DDG-Herbsttagung 2023, ist es Hauptthema der gesamten Veranstaltung?
Prof. Rubin: Ja, die Einbeziehung der Ernährungsmedizin ist ein zentrales Anliegen der diesjährigen DDG-Herbsttagung. Wir tagen gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin. Auch daher denken wir Ernährung bei allen Themen mit, bei denen das möglich ist. Mein Eindruck ist, dass die Fragen der Ernährung in den letzten Jahren immer mehr Aufwind bekommen haben. Und jetzt machen wir das für die verschiedenen Therapiebereiche noch konsequenter.
esanum: Woher kommt die gestiegene Aufmerksamkeit für gesunde Ernährung?
Prof. Rubin: Einerseits ist das Bewusstsein dafür allgemein in der Bevölkerung gewachsen. Die Menschen möchten zunehmend gerne selbst ihre Gesundheit durch eigenes Verhalten positiv beeinflussen und sich nicht von Ärzten und Medikamenten abhängig machen. Zudem haben wir eine viel bessere wissenschaftliche Datenlage für ernährungsmedizinische Interventionen als noch vor 10 bis 20 Jahren. Mit zunehmender Evidenz steigt auch die Aufmerksamkeit in den Fachmedien und bei Ärztinnen und Ärzten und Therapeutinnen. Und auch politisch ist gesunde Ernährung stärker auf der Agenda - auch im Hinblick auf Verhältnisprävention. Zudem wenden sich die Medien stärker dem Thema Adipositas zu, auch aufgrund des anstehenden Disease Management Programms (DMP) Adipositas. Im Fokus stehen derzeit besonders die Adipositas-Medikamente. Hier haben wir noch zu wenig umsetzbare Behandlungsstrategien, die im deutschen Gesundheitswesen finanziert werden. Aber immerhin wird das jetzt aktiv diskutiert. Und das bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte sich zunehmend damit auseinandersetzen. Das Medikament Semaglutid ist sehr nachgefragt und ich verordne es häufig. Die medikamentöse Unterstützung der Gewichtsreduktion ist ein Gewinn, jedoch nur in Kombination mit einer nachhaltigen Umstellung der Ernährungsgewohnheiten - daher versuche ich immer, meine Patientinnen und Patienten von einer begleitenden Ernährungstherapie zu überzeugen - weil sonst der Effekt der Medikamente häufig begrenzt ist. Es gibt einen kleinen Prozentsatz von Menschen, die gar nicht auf das Medikament ansprechen. Viele, die gut ansprechen, verlieren 10-15 Prozent ihres Ausgangsgewichts. Bei manchen wirkt das Medikament nicht nachhaltig und sie nehmen wieder zu, obwohl sie es weiter spritzen. Und wieder andere müssen die Therapie wegen Nebenwirkungen abbrechen. Wenn bestimmte Ernährungsfehler nicht behoben werden, sind die Effekte also nicht nachhaltig und die Medikamente sind sicher kein Allheilmittel.
Zum Semaglutid, das schon länger für Diabetiker und jetzt auch für Adipositas zugelassen ist, kommt jetzt demnächst das Tirzepatid - ein duales hormonell wirksames Medikament. Es spricht nicht nur GLP1, sondern auch GIP an. Laut Studiendaten sind hier die Gewichtsverluste noch größer, wir dürfen also gespannt sein.
esanum: Mit welchen neuen Erkenntnissen und Ideen in der Diabetologie wartet die Tagung auf?
Prof. Rubin: Wir werden viel über Prävention und Therapiemöglichkeiten bei Adipositas hören. In der Prävention wird zunehmend auf die pflanzenbasierte Ernährung fokussiert und die hochverarbeiteten Lebensmittel stehen in der Kritik. Umsetzbar ist die Prävention nur mit flankierenden politischen Maßnahmen. Für die Therapie werden insbesondere Ernährungs- und Bewegungsinterventionen beleuchtet, auch mit telemedizinischer und App-basierter Unterstützung. Auch das anstehende DMP Adipositas wird thematisiert. Das ist jetzt relativ weit fortgeschritten - und wird die erste Krankenkassen-finanzierte Therapie bei Adipositas sein. Davon versprechen wir uns sehr viel und berichten auf dem Kongress ausführlich. Auch die praktische Ernährungsmedizin, mein persönliches Thema, nimmt einen großen Raum ein. Es geht darum, was man an Ernährungstherapie, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich, für Patienten umsetzen kann. Im Krankenhaus geht es speziell auch um den typischen Patienten, der in der Regel älter ist und multiple Erkrankungen hat. Da ist die entsprechende Ernährung wichtig, gerade auch bei bestehendem Diabetes. Wie geht man etwa mit Patienten auf der Intensivstation, nach einer Operation, mit künstlicher Ernährung um? Diesen Fragen wenden wir uns explizit zu. Ernährung bei Nierenerkrankungen, Appetitlosigkeit oder Mangelernährung - all das wird betrachtet werden.
Auch die Digitalisierung wird ein wichtiger Schwerpunkt sein. Es gibt bahnbrechende Veränderungen, etwa neue Diabetes-Technologien bei Typ 1 Diabetes. Und auch digitale Gesundheitsanwendungen, wie verordnungsfähige APPs für Diabetes und den Adipositas-Bereich, werden wir näher beleuchten. Das sind wichtige neue Tools, die man künftig zusätzlich mehr nutzen sollte.
esanum: Was sind Ihre persönlichen Kongress-Highlights, auf die Sie sich besonders freuen?
Prof. Rubin: Meine Schwerpunkte werden natürlich bei den Adipositas-Themen und der praktischen Ernährungsmedizin liegen. Aber ich freue mich auch auf Themen, die wir sonst noch nicht so sehr im Blick hatten, beispielsweise Zukunftsvisionen - Richtung Planetary Health Diet und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem immer größer werdenden Konsum von hoch verarbeiteten Lebensmitteln. Hier geht es dann hauptsächlich um das Thema Prävention und die Möglichkeit, Diabetes durch eine gesunde Ernährung zu verhindern und dabei sogar noch etwas für die Umwelt zu tun. Besonders auf die Sitzungen Diabetes und Ernährung im Krankenhaus, Ernährung aktuell, Technologische Chancen im Alltag mit Diabetes, Aktuelle Aspekte des Diabetes in der Schwangerschaft, Nachhaltige Ernährung als Lösung für die Prävention und Managements des Diabetes bin ich gespannt.
esanum: Geht es auch um berufspolitische Weichenstellungen?
Prof. Rubin: Natürlich. Wir sehen ja, dass bei der Krankenhausreform die Diabetologie leider nicht besonders berücksichtigt wird. Sie ist ohnehin in vielen Krankenhäusern nicht mehr vertreten oder zumindest deutlich unterrepräsentiert, wenn man bedenkt, dass jeder 5. Krankenhauspatient einen Diabetes hat. Wir brauchen Diabetes Units in den Krankenhäusern, damit eine Fachexpertise dort vorhanden ist.
esanum: Was wünschen Sie sich für Ihr Fach in Gegenwart und Zukunft?
Prof. Rubin: Wir wünschen uns für die nahe Zukunft, dass es gelingt, in dem gegenwärtigen Prozess der Krankenhausreform die Diabetologie entsprechend ihrer Bedeutung zu verankern. Parallel muss die ambulante Diabetologie und die intersektorale Versorgung deutlich gestärkt werden, weil sonst die an Diabetes Erkrankten nicht adäquat versorgt werden können. Das geschieht schon jetzt vielfach nicht und würde dann in Zukunft noch schlechter werden. Zudem wünsche ich mir für die Zukunft, dass die Ernährungsmedizin ambulant und stationär noch präsenter wird. Bisher fehlt es hier vor allem an ökonomischen Anreizen. Wir müssen für die Zukunft mehr Ernährungsmedizinerinnen ausbilden - sodass auch eine Revolution von unten stattfindet. Denn beim Nachwuchs ist dieses Thema stark nachgefragt. Die Notwendigkeit seitens der Patienten besteht ohnehin. Wir haben seit zwei Jahren die bundesweite Zusatzbezeichnung Ernährungsmedizin. Das ist schon mal ein guter Erfolg. Das Fach wird aber dann attraktiver werden, wenn Ernährungsmedizinerinnen stärker ausgebildet werden und gesucht sind. Das möchte ich gern geändert sehen. Wir brauchen entsprechend auch mehr Lehrstühle für dieses Thema.
Diabetes Herbsttagung 2023: Appetit auf Gesundheit
Die Diabetes Herbsttagung findet vom 17. bis zum 18. November in Leipzig statt und legt den Fokus auf die Verbindung zwischen Diabetes und Ernährung. Die Veranstalter Deutsche Diabetes Gesellschaft und Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin stellen mit ihrem Programm die Bedeutung einer ganzheitlichen Herangehensweise in den Mittelpunkt. esanum berichtet von der DDG Herbsttagung. Hier finden Sie die aktuelle Berichterstattung.