Die Orientierungsdebatte des Bundestages zur Einführung einer Corona-Impfpflicht hat gezeigt: Das Thema ist facettenreich, das Meinungsspektrum der Abgeordneten fraktionsübergreifend differenziert sowohl hinsichtlich der präferierten Handlungsoptionen als auch der jeweiligen Begründungen. Es reicht von der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ab 18, altersabhängigen Impfpflichten, Pflichten zur Impfberatung bis hin zu generellen Ablehnung einer Impfpflicht. Kontrovers: die Einführung eines Impfregisters. Eine Debatte, die überwiegend mit dem Florett gefochten wurde – jenseits dröhnender Rhetorik der AfD.
Die denkbare Einführung der Corona-Impfpflicht in Deutschland ist kein Regierungs- oder Koalitionsprojekt. Ihre Notwendigkeit, Ausgestaltung und Begründung wird parteien- und fraktionsübergreifend unterschiedlich beurteilt, und wahrscheinlich werden am Ende der parlamentarischen Debatte wohl auch mehrere Entscheidungsvarianten abgestimmt werden müssen. Insofern gibt es auch Sachgründe, warum die Bundesregierung, deren Mitglieder ebenfalls unterschiedliche Haltungen zur Impfpflicht vertreten, nicht willens war, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen.
Was gleichwohl die Unions-Opposition nicht davon abhielt, der Ampel Führungs-und Entscheidungsschwäche vorzuhalten. Die Folge, so der CDU-Abgeordnete Tino Sorge, sei Zeitverlust. Er und seine Fraktionskollegin Andrea Windholz hielten Bundeskanzler Olaf Scholz vor, einen Fragenkatalog der Union erst vor wenigen Tagen und das auch noch unvollständig beantwortet zu haben: “Das ist Planlosigkeit. Die Regierung verweigert ihre Arbeit.” Es fehlten Antworten zum Vollzug der Impfpflicht, ihrer Kontrolle und zur Einführung eines Impfregisters in Deutschland. Eine Impfpflicht müsse an ihre Angemessenheit, Daten und Fakten gebunden sein; dazu und mit Blick auf weitere Pandemien sei ein Impfregister notwendig, so Lindholz.
Wie schwankend die Einstellung zur Corona-Impfpflicht in Deutschland je nach Umständen sein kann, machte der CDU-Abgeordnete Erwin Rüddel, einst Vorsitzender des Gesundheitsausschusses deutlich: Bis zur Delta-Variante des Coronavirus sei er Gegner, dann Befürworter der Impflicht gewesen, jetzt, in der Konstellation mit Omikron Skeptiker: Omikron sei weniger gefährlich, es gebe neue Therapeutika, denkbar sei ein Übergang von der Pandemie zur Endemie. Und der Lackmus-Test für die Impfpflicht in Deutschland stehe noch aus: deren Durchsetzung in Einrichtungen des Gesundheitswesens.
Ziemlich homogen scheint das Meinungsbild in der SPD zu sein: pro Impfpflicht. Mit einer Durchseuchungsstrategie eine bevölkerungsweite Grundimmunisierung erreichen zu wollen, werde unverantwortlich viele Menschen das Leben kosten und zugleich das Gesundheitswesen überlasten, so Dagmar Schmidt. Neue, verschärfte Kontaktbeschränkungen bis hin zum Lockdown seien angesichts der erreichten Impfquoten nicht mehr zu rechtfertigen. Die Erkenntnisse auf der Basis von weltweit fünf Milliarden Corona-Impfungen rechtfertigten die Einführung einer Impfpflicht in Deutschland ab 18.
"Es gibt einen Gegner, und der ist das Virus. Die Impfpflicht ist die Entscheidung für einen Weg der bewussten Vorsorge", argumentierte die SPD-Abgeordnete Heike Bachmann. Einen dritten Herbst mit einer erneuten Pandemiewelle in Deutschland dürfe es nicht geben. Kein Experte schließe derzeit aus, dass es nach Omikron nicht zu neuen und gefährlicheren Corona-Varianten kommen werde. Notwendig sei eine Pflicht zu drei Impfungen für Erwachsene, um Kinder und Jugendliche, die am wenigsten gefährdet seien, aber die größten Einschränkungen hätten erdulden müssen, sowie Beschäftigte in der Pflege vor einer Ansteckung mit dem COVID-19 zu schützen. "Diesen Menschen gegenüber stehen wir in der Verantwortung."
Mit ihrer persönlichen Erfahrung in Sachsen argumentierte Dr. Paula Piechotta von den Grünen. Das Land mit der niedrigsten Impfquote in Deutschland habe die höchste Zahl an Corona-Toten gemessen an der Bevölkerung erlitten – die Radiologin plädierte deshalb für eine Impflicht der über 50-Jährigen und einer verpflichtende Beratung für allen Erwachsenen. Das Ziel müsse sein, die Zumutungen der Pandemie zu beenden.
Piechottas Fraktionskollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, ebenfalls Ärztin, ging weiter und forderte für Deutschland eine generelle Impfpflicht ab 18. Im europäischen Vergleich liege die deutsche Impfquote im Mittelfeld – aus Sicht von Kappert-Gonther zu wenig, um die Corona-Pandemie zu bewältigen. "Hätten wir eine Impfquote wie in Bremen, dann könnten wir auf eine Impfpflicht verzichten". Die Impfmöglichkeit sei ein Privileg, so Kappert-Gonther und verwies auf die dringende Bitte des Bundesverbandes der Organtransplantierten, die Corona-Impfpflicht zu unterstützen. "Diese Menschen brauchen unsere Solidarität." Eine klare staatliche Regelung zur Impfpflicht werde die Gesellschaft in Deutschland eher befrieden als spalten, glaubt die Grünen-Politikerin.
Marco Buschmann (FDP), neben Karl Lauterbach das einzige Kabinettsmitglied in der Bundesregierung, das sich an der Impfpflicht-Debatte beteiligte, verteidigte die Vorgehensweise der Koalition bei der Entscheidungsfindung: Das gewählte Format sei richtig, weil in der Frage der Impfpflicht nicht der Primat der Macht, sondern der Primat der Argumente und des freien Wortes gelten müsse. Der Bundesjustizminister verwies auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu pandemiebedingten Einschränkungen und die darin höchstrichterlich gesetzten hochdifferenzierten Anforderungen. Vor diesem Hintergrund und aufgrund neuer Aspekte durch Omikron sowie neue Behandlungsmöglichkeiten bei einer COVID-19-Infektion sei für ihn bislang keine abschließende Meinungsbildung bezüglich der Impfpflicht möglich gewesen.
Diese Meinung hat sich sein Fraktionskollege Wolfgang Kubicki schon gebildet: die Ablehnung der Impfpflicht. Er persönlich habe sich frei und eigenverantwortlich für die Impfung und das Boostern entschieden, weil Corona für ihn persönlich auch Krankheit oder sogar Tod hätte bedeuten können. "Die Impfung ist vernünftig – aber die Durchsetzung von Vernunft durch staatlichen Zwang ist problematisch", so Kubicki. Und eine Vorratsentscheidung für eine Impfpflicht gegen heute noch unbekannte Coronavirus-Varianten sei überhaupt nicht zu rechtfertigen.
Dagegen würde sein Parteikollege, der Infektiologe Professor Andrew Ullmann zumindest eine wissenschaftlich begründete altersspezifische Impfpflicht befürworten, primär aber auf Aufklärung setzen, etwa mit einem Pflicht zur ärztlichen Beratung.
Dass gute Aufklärung und zielgruppenspezifische Impfangebote wirksam seien, zeige das Beispiel Bremen, so Gregor Gysi (Die Linke), der eine allgemeine Impfpflicht – anders etwa als seine Fraktionskollegin Kathrin Vogler – ablehnt. Zwang sei undenkbar, Sanktionen schwer durchzusetzen, und gut betuchte Bürger hätten die Möglichkeit, sich durch Bußgeldzahlungen von der Impfpflicht freizukaufen. Gysi: "Was hilft, ist: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung."
Im Ergebnis einmütig scheint die AfD sich gegen eine wie auch immer geartete Impfpflicht positioniert zu haben – allerdings mit durchaus unterschiedlichen Begründungen. Fraktions- und Parteispitze, Alice Weidel und Tino Chrupalla sehen darin einen "Fundamentaleingriff" in Freiheits-, Selbstbestimmungs- und Unversehrtheitsrechte der Bürger und damit eine “Fundamentalattack” der machthabenden Bundesregierung auf die Verfassung. "Die Impfpflicht ist ein Anschlag auf Grundrechte, Menschenrechte und körperliche Unversehrtheit", so Weidel.
Etliche Abgeordnete der AfD mussten auf der Zuschauertribüne an der Debatte teilnehmen, weil sie die Corona-Schutzauflagen nicht erfüllen, waren aber nicht ausgeschlossen. Gleichwohl wurde dieser Umstand als Beleg für die Ausgrenzungstaktik der Bundesregierung ausgenutzt. Jedoch ist das Meinungs- und vor allem Begründungsspektrum innerhalb der AfD nicht absolut homogen. Die Gegnerschaft zur Impfpflicht kann nicht unbedingt mit einer Gegnerschaft zur Impfung gleichgesetzt werden. Beispiel Jörg Schneider, der sich als ehemaliger Krebspatient nach intensiver Beratung mit seinem Arzt für die Corona-Impfung entschieden hat, obwohl er sie generell bei langfristiger Betrachtung für fragwürdig hält.
Und Karl Lauterbach, der als Gesundheitsminister nach Auffassung der Unions-Opposition eigentlich die Federführung für das Gesetzgebungsverfahrens übernehmen müsste? "Ich werde alle Anträge aus dem Bundestag durch das Ministerium bearbeiten und unterstützen – egal ob sie mir gefallen." Dieser Vorbemerkung folgte fast am Schluss der Debatte ein vehementes Plädoyer für die zügige Entscheidung zugunsten einer Impfpflicht, das hatte im Dezember 2021 bereits das Gutachten einer Stuttgarter Wirtschaftskanzlei gezeigt. Die administrative Vorbereitung werde fünf bis sechs Monate erfordern, parlamentarische Entscheidungen seien rasch nötig, um einer weitere Pandemiewelle im Herbst begegnen zu können. Es gebe keine Gewissheit, dass Omikron den Weg von der Pandemie zur Endemie öffne. Kein Wissenschaftler schließe derzeit aus, dass eine neue Corona-Variante die Infektiosität von Omikron mit der Gefährlichkeit von Delta kombiniere könne.
Lauterbach: "Wenn jetzt nicht entschieden wird, dann ist es zu spät. Das können wir Kindern, alten Menschen und Gefährdeten nicht zumuten." Und mit einem Zitat des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel appelliert der Minister: "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit."