Berlin. Zu guten Lernbedingungen in der Schule, insbesondere im Primärbereich, wäre die Integration von Gesundheit als ein wesentliches Lernziel eine wichtige Voraussetzung, Bildungserfolge nachhaltig zu sichern. Diese Bedingung wird vom deutschen Bildungssystem weitgehend nicht erfüllt, so das Fazit des von der Stiftung Kindergesundheit gemeinsam mit den Fachgesellschaften für Sozialpädiatrie und für Kinder- und Jugendpsychiatrie erstellten Kindergesundheitsbericht 2024, der am Dienstag in Berlin präsentiert wurde. In diesem Jahr fokussiert der Bericht auf die Rolle der Schule.
„Die Schule ist ein entscheidender Ort für eine gesunde Zukunft unserer Gesellschaft. Die Schulpflicht nimmt auch den Staat in die Verantwortung, die Gesundheit und das Wohlergehen von Schülerinnen und Schülern zu schützen“, so Professor Berthold Koletzko vom Stiftungsvorstand.
Dieser Aufgabe kommt der Staat allerdings unzureichend nach. Bereits bei der Einschulungsuntersuchung werden erhebliche physische und psychische Defizite festgestellt: 31,2 Prozent der Jungen und 34 Prozent der Mädchen haben nur ein herabgesetztes Sehvermögen; 29 Prozent der Jungen und 22,7 Prozent der Mädchen weisen Sprech- und Sprachauffälligkeiten auf; 26,2/17,6 Prozent haben Verhaltensauffälligkeiten, 9,4/10,4 Prozent leiden unter Übergewicht.
WHO, Unesco und EU haben Ziele und Strategien für gesundheitsfördernde Schulen entwickelt, die auch von Deutschland anerkannt sind, aber nicht umgesetzt werden. Das sind verbindliche Standards für jahrgangsdefinierte Ziele für die Gesundheitskompetenz, die Kinder erreichen müssen, ein Mindestmaß an körperlicher Aktivität, gesunde Ernährung und der durchgängig gesicherte Zugang zu Schulgesundheitsfachkräften. Deutschland erreiche dabei höchstens Mittelmaß, oft aber auch nur Umsetzungswerte unterhalb des Durchschnitts, so der Programm-Manager des Child und Adolescent Health-Programm, der WHO in Europa, Dr. Martin Weber.
Tatsächlich verschlimmert sich der Gesundheitszustand vieler Kinder in der Schulzeit: Die Rate der Schüler mit Übergewicht und Adipositas steigt im Schnitt auf 15 Prozent und erreicht während der Pubertät einen Höhepunkt. Entscheidend wäre eine gesunde und attraktive Schulernährung, die jedoch bei weitem nicht flächendeckend realisiert ist. Nur in vier Bundesländern sind die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin verbindlich. Nur knapp 11 Prozent der Mädchen und 21 Prozent der Jungen erreichen die von der WHO empfohlenen 60 Minuten Bewegung am Tag; eine Ursache dafür ist ausfallender Sportunterricht, aber auch die mangelhafte Integration von kurzzeitiger Bewegung in den anderen Unterrichtsfächern.
Diese Umstände schlagen sich in den Ergebnissen der HBSC-Studie über den Zusammenhang von Schulklima und guten Beziehungen zu Lehrkräften und Schülern untereinander untersucht wurde: Danach berichten zwar 84 Prozent der Schüler von einer guten subjektiven Gesundheit, aber 30 Prozent der Jungen und 52 Prozent der Mädchenhaben psychosomatische Beschwerden, nur eine kleine Minderheit erreicht die notwendige körperliche Aktivität, ein Viertel der Befragten hat größere Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen, die Lebenszufriedenheit weist eine hohe Abhängigkeit vom Wohlstand der Eltern auf; gut sieben Prozent der Schüler aus wohlhabenden. Familien haben eine niedrige Lebenszufriedenheit, bei Kindern aus armen Familien sind es 21 Prozent.
Generell ist es in den föderalen deutschen Strukturen nicht gelungen, systematisch und nach einheitlichen Standards, Gesundheit und Bildung zu verbinden, kritisiert Prozessor Marcel Romanos, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. „In Abwesenheit eines nationalen Konsenses, wie das Public-Health-Potential von Schule genutzt werden kann, fehlt weitgehend die innerschulische synergistische Koordination der installierten Fachdienste.“ Die Integration mit außerschulischen Angeboten des öffentlichen Gesundheitsdienstes oder Leistungen des SGB V sei kaum oder unsystematisch ausgebaut. Es herrsche eine unübersichtliche Projektitits ohne Konsequenzen für eine flächendeckende Umsetzung.
Diese Rahmenbedingungen sowie zusätzliche Herausforderungen durch Digitalisierung – auch mit ihren Risiken insbesondere für Kinder – und einem oftmals hohen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und Verständigungsschwierigkeiten treffen zunehmend auf überforderte und kränkliche Lehrer. Verschärft wird dies durch einen wachsenden Mangel an Lehrkräften, insbesondere in Grundschulen.
Neben den grundlegenden organisatorischen Mängeln des Föderalismus und fehlendem Willen der Kultusbürokratie zu einer konsequenten und konsistenten Verbindung von Bildung und Gesundheit mangelt es in Deutschland aber auch an finanziellen Ressourcen: Mit Ausgaben für Bildung insgesamt von 4,57 Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegt Deutschland sowohl unter dem Durchschnitt der EU von 4,85 Prozent als auch der OECD von 4,91 Prozent. An der Spitze liegen Länder wie Norwegen, UK und Island mit 6 bis 6,5 Prozent. Noch schlechter sind die Ausgabenwerte für die Grundschulbildung: Hier erreicht Deutschland einen BIP-Anteil von 0,35 Prozent, im Durchschnitt der OECD sind es 0,7 Prozent, an der Spitze liegen Länder wie Norwegen, UK und Israel mit 2 bis 2,5 Prozent.
Das Fazit ist: eine alternde Gesellschaft leistet sich eine doppelte Minderung ihrer zukünftigen Humanressourcen: durch zu wenig Investition in Bildung und Gesundheit ihres Nachwuchses.