Glaubt man das, was man ständig zu lesen bekommt, dann nehmen nicht nur die therapeutischen Fortschritte zur Behandlung des Diabetes zu, sondern auch die von ihm verursachten Folgeschäden. Wie passt das zusammen? Was stimmt denn nun?
Tatsächlich passt beides zusammen, wenn man zwischen absoluten und relativen Zahlen sowie zwischen individueller und epidemiologischer Situation unterscheidet. Denn das individuelle Komplikationsrisiko ist heute für einen Menschen, dem die Diabetes-Diagnose gestellt wird, deutlich niedriger als vor 20 Jahren. Das gilt jedenfalls für die überschaubare Zahl an – überwiegend hochentwickelten – Ländern, für die Daten zur Entwicklung diabetes-bezogener Komplikationsraten vorliegen.
Therapeutisch gesenktes Risiko, demographisch gestiegene Krankheitslast
Für die USA beispielsweise ist das mit Evidenz belegt: In den beiden Jahrzehnten von 1990 bis 2010 sank die Herzinfarkt-Rate bei Diabetikern um 68%. Schlaganfälle nahmen in dieser Patientengruppe um 53%, Amputationen um 51% und dialysepflichtiges Nierenversagen um 23% ab. Die positive Bilanz gilt auch für schwere Hypoglykämien mit Todesfolge, deren Zahl sich um 64% verminderte. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass diese Erfolge – neben gesteigertem Verständnis und Bewusstsein, Aufklärung und Schulung – maßgeblich den besseren Behandlungsmöglichkeiten zu verdanken sind. Außer der direkten Beeinflussung des Glucosestoffwechsels dürften dabei vor allem Antihypertensiva und Cholesterinsenker eine wichtige Rolle spielen.
Allerdings hat sich – und jetzt kommt’s – im selben Zeitraum die Diabetes-Prävalenz massiv erhöht, nämlich um mehr als das Dreifache: von 6,5 auf 20,7 Millionen Betroffene. Stichwort „Diabetes-Tsunami“. Anders als hierzulande gab es in den USA mit 27 % gleichzeitig auch ein starkes Bevölkerungswachstum. Die logische Folge: Unterm Strich ist die Zahl der Diabetes-Patienten gestiegen und mit ihr auch das Diabetes-assoziierte Vorkommen an Komplikationen, trotz therapeutisch gemindertem Risiko.
Komplikationsmuster im Wandel
Diese Zahlen wurden im Jahr 2014 im New England Journal of Medicine publiziert1. Ein aktueller Beitrag2 mit demselben Erstautor weist erneut auf das im Endeffekt vergrößerte Volumen an Lebensjahren mit Diabetes hin. Die Abnahme der Mortalität bei gleichzeitig ansteigender Prävalenz des Diabetes könnte zudem eine Diversifizierung der Morbidität bedingen. Ein Bestandteil des neuen Musters: hohe Raten an Nierenerkrankungen, alterungsbedingter Invalidität und Krebs.
Optimierte Behandlung und neue Präventionsstrategien erforderlich
Eine schwedische Registerstudie3 analysierte kürzlich die zahlenmäßige Entwicklung bei Typ-2-Diabetikern mit blutzuckersenkender Behandlung. In den Jahren von 2006 bis 2013 nahm die Prävalenz um 61 % zu (2013: 4,4 %) , während die Inzidenz relativ stabil blieb (399 auf 100.000 Personen). Auch die Prävalenzen der kardiovaskulären und mikrovaskulären Erkrankungen bewegten sich mit 34 % bzw. 16 % auf etwa gleichbleibendem Niveau. Der Gebrauch von Insulin stieg um fast ein Drittel, der von Sulfonylharnstoffen sank um etwas mehr als die Hälfte. Der Verlust an Lebensjahren durch den Diabetes trat in den jüngeren Altersstufen am ausgeprägtesten in Erscheinung.
Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung waren die Risiken der Typ-2-Diabetiker für Herzinfarkt, Schlaganfall und Gesamtsterblichkeit altersstandardisiert klar erhöht (etwa um das 1,7-, 1,5- und 1,3-Fache). Fazit der Autoren: Die hohe Prävalenz an Komorbiditäten und gesteigertem Komplikations- und Sterberisiko erfordert dringend eine optimierte Behandlung und neue Präventionsstrategien.
Wie stark ist die Lebenserwartung reduziert?
Auch der „Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes 2017“ der DDG weist auf die Bedeutung schwerwiegender Komplikationen wie Myokardinfarkt, Apoplex oder Niereninsuffizienz für die Lebenserwartung von Diabetikern hin. Demnach verhält es sich nach aktuellen Schätzungen so:
Das anfällige Diabetiker-Herz
An erster Stelle steht bei den Komplikationen, an die es bei Diabetikern zu denken gilt, das Herz. Zitat aus dem DDG-Bericht: „Im Vergleich zu Stoffwechselgesunden ist die Überlebensrate bei Herzkranken mit Diabetes deutlich schlechter. Die Krankheitsverläufe sind schwieriger. Der kardiale Metabolismus ist verändert. Plaque, Blut und Myokard sind besonders vulnerabel. Das macht das Diabetikerherz anfällig für Probleme.“
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
Referenzen: