Die Coevolution von Wein und Mensch

Alkoholische Genussmittel: Durch die Evolution hinweg stellen sie einen konstanten Begleiter des Menschen und seiner frühen Vorfahren dar. Prof. Dr. Reinhard Renneberg folgt der "Muttermilch der Zivilisation" bis zu ihren Ursprüngen.

Moderne Landwirtschaft begann am Ararat

Der englische Wissenschaftsjournalist Tom Standage erklärt in A History of the World in 6 Glasses: Das Alte Griechenland war der erste Platz, wo Weintrinken ganz allgemeiner Brauch wurde.  Das mediterrane Klima begünstigte den Wein-Anbau und alle sozialen Schichten tranken Wein. Er unterdrückte auch sehr praktisch gefährliche Keime im Trinkwasser. Bekanntlich hatten später dann die Soldaten Napoleons ein Fläschchen im Tornister, um den Rotwein potentiell gefährlichem Trinkwasser zuzusetzen. Das Römische Imperium übernahm sehr viel von den Griechen, von Aquädukten, Säulen und Togen angefangen bis zur Kultur des Weines. Mit den römischen Eroberungen breitete sich auch der Wein aus. Wein wurde für immer assoziiert mit Macht, Geschmack und dolce vita...

Professor Patrick McGovern von der Universität Pennsylvanien hat einen Traumjob: Er kombiniert modernste chemische Analytik mit klassischer Archäologie. Weltweit forscht er nach historischen Spuren des Weines. Dazu hat er seine "Noah-Hypothese" entwickelt: Der biblische Noah war schon lange vor dem Bau der Arche professioneller Winzer. Er landete der Legende nach mit seiner Arche am Berg Ararat (damals Armenien, heute Osttürkei) und baute dort alsbald Wein an. Tatsächlich wurde, historisch verbürgt, die moderne Landwirtschaft am Ararat begründet. 

McGovern sucht nach den Wurzeln des Weins mit modernen DNA-Vergleichen, zunächst bei wilden Wein-Verwandten. Der Wilde Eurasische Wein (Vitis vinifera sylvestris) kommt von Spanien bis Zentralasien vor. Unser heutiger Kultur-Wein stammt von ihm ab. McGovern wurde fündig in den türkischen Taurusbergen (wo der Tigris entspringt). Dort wächst der Ursprungswein heute noch. 

Sein internationales Team sammelte alles zum Thema Wein von den örtlich ansässigen Weinbauern, einschließlich der Folklore um den Ursprung des Weinbaus. Die Forscher fanden auch antike Tonscherben mit Weinresten mit dem corpus delicti: das bereits vom großen französischen Mikrobiologen Louis Pasteur erforschte Salz der Weinsäure (Tartrat). Es lässt direkt auf Wein schließen. 

Nicht nur das Pulver haben die Chinesen erfunden

Vor 15 Jahren glaubte McGovern, die ältesten Spuren von Wein und von Gerstenbier, 7.400 Jahre alt, im iranischen Dorf Hajii Firuz Tepe gefunden zu haben. Danach wurden aber in Jiahu in Chinas Henan-Provinz, neben den ältesten "Orakelknochen" mit chinesischen Bildzeichen, auch noch ältere, 9.000 Jahre alte, Tonscherben aufgespürt. Sechzehn chinesische Scherben mit Weinresten nahm McGovern mit zum Pennsylvania Museum der Archäologie und Anthropologie in Philadelphia. Außerdem verschiffte er 90 verschlossene Metallgefäße aus der Shang-Dynastie nach Amerika. 

Er kombinierte im Labor moderne Analysetechniken wie Gas- und Flüssigchromatographie, Infrarot-Spektrometrie und Isotopen-Analyse. Sein Ergebnis: Der chinesische Wein enthielt ein komplexes Gemisch aus Tartrat, fermentiertem Reis, Bienenwachs und Weißdornfrüchten (mit hohem Zuckergehalt und den Natur-Hefen für die alkoholische Gärung). 

In der Shang-Dynastie, zwischen dem 18. bis 11.  Jahrhundert v. Chr. hatte die chinesische Önologie erhebliche Fortschritte gemacht. Der analysierte Wein der Shang-Kaiser aus den Bronzegefäßen enthielt wieder Tartrat, dazu Chrysanthemen-Spuren, Harz von Pinien (das erinnert an modernen griechischen Retsina), Spuren von Kampfer, Oliven und Gerbsäuren und Wermut.

Neugierig fragte ich McGovern direkt über SKYPE: "And, did you – for sake of curiosity – try to taste this historic Shang- Wine?" Seine kurze Antwort: "Of course… NOT!"  Nein, er hat selber den aromatischen Shang-Wein NICHT probiert: Die antiken Gefäße enthielten im Wein nämlich… bis zu 20% Blei! Wein ist bekanntlich tausende Male saurer als Wasser (pH-Werte von 2,8 bis 3,8) und löst hervorragend Schwermetalle aus den Speicherbehältern heraus. 

Alkoholische Versorgung: Grundbedürfnis der menschlichen Gemeinschaft?

Eine gesicherte Versorgung mit alkoholischen Getränken war nach McGovern offenbar sehr viel früher als bisher angenommen, ein Grundbedürfnis der menschlichen Gemeinschaft: Er  erkennt in der frühen Gärkunst sogar eine weise Strategie: "Energiereichen Zucker und Alkohol in sich hineinlaufen zu lassen war eine fabelhafte Lösung, um in einer feindlichen und rohstoffarmen Umgebung zu überleben."

Rasch breitete sich in der Jungsteinzeit das Handwerk der Alkohol-Magier über die ganze Welt aus. McGoverns kühne These: Der Ackerbau und mithin die gesamte Neolithische Revolution vor rund 11.000 Jahren war letztlich das Ergebnis des Drangs des Menschen nach Trunk und Rausch. Alkohol war also „die Muttermilch der Zivilisation“.

Die "Betrunkene-Affen"-Hypothese

Der Biologe Robert Dudley fragte sich nun: Und wieso überhaupt Alkohol? Die frühen Menschen und andere Primaten hatten offenbar eine Vorliebe für vergorene Früchte seit Millionen Jahren. Fermentierte Früchte waren einfacher zu erriechen und dadurch zu finden. Sie lieferten doppelt so viele Kalorien wie unvergorene Zucker (wie Bierbauchträger leidvoll wissen). 

Und, wie bei uns heute: Der milde Rausch ließ für kurze Zeit die Probleme des Dschungels vergessen… Die Alkoholkonzentrationen waren allerdings niedrig, denn volltrunkene Affen wurden leichter Beute von Raubtieren. Für Säugetiere ist Ethylalkohol ein Nervengift. Seine Blutkonzentration wird beim Menschen in Promille gemessen. Überleben konnten zu Zeiten, als man vor Hunger oder zum Spass vergorene Früchte aß, nur diejenigen, die dieses Gift möglichst schnell abbauen oder ausscheiden konnten.

Genuss vergorener Früchte ohne Gefahr und Reue erst durch Gen-Mutation

Amerikanische Paläogenetiker haben die Evolution des Enzyms Alkohol-Dehydrogenase (ADH) in der etwa 70 Millionen Jahre währenden Geschichte der Primaten untersucht. Beim Vergleich des Erbgutes von 17 Primaten rekonstruierten die Forscher eine Mutation des Gens ADH4 vor etwa zehn Millionen Jahren bei den gemeinsamen Vorfahren der jetzigen Menschen und Menschenaffen. Wie das geschah ist noch unklar. 

Erst nach dieser Gen-Mutation konnten die Hominiden vergorene Früchte ohne Gefahr und Reue genießen. Sie hatten ihren Wohnsitz von den Bäumen auf den Erdboden verlegt und dort, statt frisch vom Baum Früchte zu pflücken, reichlich vergorenes Fallobst gegessen. Die so veränderte ADH half dem Menschen sehr, als er Getreide anbaute und aus den schwer verdaulichen Körnern ein gut bekömmliches Bier braute.

McGovern vermutet, dass auf der Jagd und bei der Nahrungssuche zunächst Trauben in geflochtene Körbe oder hohle Kürbisse gestopft wurden, denn Keramiken gab es noch nicht. Auf dem Weg zum Lager der Horde wurden die Trauben durch ihr Eigengewicht zerquetscht und ihr Saft wurde durch anhaftende Hefen vergoren. In der Areni 1-Höhle in Armenien fanden Archäologen Weinpressen und Gefäße. Verschließbare Keramiken schützten den Wein vor Sauerstoff und damit vor der Essigsäure-Gärung. Wein war nun das ganze Jahr über verfügbar. Voila´! Heiter-philosophisch  meine McGovern zum Schluss unseres SKYPE-Gespräches:

"Eine gute Flasche Wein kann uns heute helfen, Geschichte nachzuempfinden. Prost!"

Referenzen:

Reinhard Renneberg (2023): Biotechnologie für Einsteiger, 6.Auflage, SAV Heidelberg (im Druck)