Interview mit Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation
In Deutschland warten etwas 10.000 Patienten auf ein Spenderorgan. In den ersten drei Quartalen 2018 gab es bisher 719 Organspender. 2.340 Organe wurden gespendet – zu wenig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich deshalb vorgenommen, die Zahl der Spender deutlich zu erhöhen. Dafür hat er einen Gesetzentwurf vorgelegt. Außerdem denkt Spahn über einen Paradigmenwechsel nach: Die Widerspruchslösung, die vorsieht, dass jeder zum Organspender wird, solange er nicht selbst oder die Angehörigen widersprechen.
Für Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation, steht fest: "Die Widerspruchslösung allein wird an dem derzeitigen Organmangel nichts ändern, wenn nicht gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die Krankenhäuser verbessert werden." Insbesondere auf Verbesserungen für die Kliniken zielt Spahns Gesetzentwurf ab. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist die bundesweite Koordinierungsstelle für die postmortale Organspende in Deutschland. Sie setzt sich dafür ein, möglichst vielen Patienten auf den Wartelisten durch eine Transplantation mit einem geeigneten Spenderorgan zu helfen.
esanum: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der dafür sorgen soll, dass sich die Zahl der Organspender in Deutschland erhöht. Wie bewerten Sie seine Vorschläge?
Rahmel: Die DSO begrüßt die Vorschläge. Jens Spahn hat damit ein klares Signal zur Förderung der Organspende gesetzt. Die verschiedenen Maßnahmen zur Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende haben unsere volle Unterstützung.
esanum: Der Gesetzentwurf sieht vor, Kliniken dabei zu unterstützen, dass sie einfacher geeignete Organspender identifizieren können. Auch sollen Entnahmekliniken finanziell bessergestellt werden. Reichen diese Maßnahmen aus, um mehr Spender zu finden?
Rahmel: Die Stärkung der Position der Transplantationsbeauftragten ist ein zentrales Element des Gesetzesentwurfes. Die Transplantationsbeauftragten sorgen dafür, dass bei Entscheidungen am Lebensende in den Kliniken auch an die Organspende gedacht wird. Sie haben die Aufgabe, die Abläufe und Strukturen in den Kliniken dafür zu schaffen, Spender zu erkennen und den Organspendeprozess zu begleiten. Eine verbindliche Freistellung der Transplantationsbeauftragten für ihre Aufgabe sowie Möglichkeiten zur Fortbildung, wie im Gesetz vorgesehen, schaffen die Voraussetzungen dafür, dass sie diese wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe überhaupt erfüllen können.
Ebenso wichtig ist es, dass den Kliniken durch Organspenden keine finanziellen Nachteile entstehen. Hier setzt der Initiativplan an, den die DSO gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium und vielen Partnern entwickelt. Dazu gab es Ende Oktober eine Auftaktveranstaltung. Hier wurden im ersten Schritt, Handlungsfelder identifiziert, in denen Maßnahmen notwendig erscheinen. Diese beziehen sich auf Behandlungsstrategien in den Kliniken am Lebensende, die Meldung und Charakterisierung von Organspendern sowie eine bessere Wahrnehmung und Wertschätzung der Organspende in der Öffentlichkeit.
esanum: Die Zahl der Organspender hat sich seit 2012 verringert – trotz mehrerer Kampagnen, die auf die Wichtigkeit aufmerksam machen sollten. Auch wenn etwas mehr Organe in diesem Zeitraum gespendet wurden, reicht das nicht, um den Bedarf zu decken. Warum verharren die Zahlen seit Jahren auf niedrigem Niveau?
Rahmel: Die Zahl der Organspender in Deutschland ist zwischen 2010 und 2017 kontinuierlich gesunken. Die Gründe sind vielfältig. Die zusätzliche personelle und finanzielle Belastung der Krankenhäuser durch eine Organspende spielt dabei eine Rolle. Einen Einfluss haben auch Patientenverfügungen, die insbesondere bei unklaren oder widersprüchlichen Formulierungen in Hinblick auf den Verzicht auf lebensverlängernde intensivmedizinische Maßnahmen einerseits, den Willen in Bezug auf eine mögliche Organspende andererseits, eine Organspende vermeintlich ausschließen. Analysen der DSO zusammen mit den Entnahmekrankenhäusern zeigen, dass aus diesen Gründen bei Therapieentscheidungen am Lebensende die Organspende häufig gar nicht in Betracht gezogen wird. Damit wird unter Umständen der Wille des Verstorbenen nicht berücksichtigt und die Chance auf eine Organspende verpasst.
Auch die 2012 bekannt gewordenen Manipulationen der Warteliste in einigen Transplantationszentren haben zu der Entwicklung beigetragen und insbesondere in den Entnahmekrankenhäusern für Irritationen und Kritik gesorgt.
esanum: Bei welchen Organen gibt es die größte Diskrepanz zwischen den gespendeten Organen und dem Bedarf? Woran liegt das?
Rahmel: Betrachtet man nur die Zahlen, so gibt es die größte Differenz bei der Niere: Im Jahr 2017 warteten rund 8.000 Patienten auf eine neue Niere, es gab 1.921 Nierenübertragungen, davon 1.364 nach einer postmortalen Spende.
Dennoch ist der Bedarf bei anderen Organen nicht geringer. Es fehlt nur die Möglichkeit, eine längere Wartezeit zu überbrücken, wie das bei der Niere aufgrund der Dialysebehandlung möglich ist. Im Jahr 2017 wurden 429 Patienten neu für eine Herztransplantation angemeldet, es gab 257 Herzübertragungen. Bei Lungen gab es 403 Neuanmeldungen und 309 Lungentransplantationen. Bei der Leber 1.213 Neuanmeldungen und 823 Lebertransplantationen. Davon 760 nach postmortalen Spenden.
esanum: Welche gesundheitspolitischen Schritte würden die Arbeit der DSO einfacher und effizienter machen?
Rahmel: Zusätzlich zu den schon beschriebenen Maßnahmen im Gesetzentwurf und Initiativplan wäre es wichtig, das Thema Organspende fest in der Ausbildung von Ärzten und Pflegenden zu verankern. Die DSO bietet hierzu bereits umfangreiches Schulungs- und Informationsmaterial an.
esanum: Welchen Beitrag könnten niedergelassene Ärzte leisten, um das Thema Organspende stärker in den Fokus zu rücken und ihre Patienten für die Wichtigkeit zu sensibilisieren?
Rahmel: Niedergelassene Ärzte haben oft das Vertrauen ihrer Patienten und sind für viele Bürger die ersten Ansprechpartner bei allen Themen rund um die Medizin, das gilt auch für die Organspende. Es wäre wichtig, dass sie Fragen rund um die Organspende beantworten können und auch an weitere Ansprechpartner verweisen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet Informationsbroschüren für Ärzte und Patienten sowie Organspendeausweise zum Auslegen in den Praxen an.
esanum: Spanien hat eine deutlich höhere Quote von Organspendern. Was läuft dort besser als in Deutschland?
Rahmel: Das spanische Organspendesystem setzt in erster Linie auf strukturelle Maßnahmen in den Kliniken, so wie sie jetzt auch in Deutschland geschaffen werden sollen. Besonders hervorzuheben ist die sehr enge Verzahnung der Transplantationskoordinatoren mit dem ärztlichen und pflegerischen Personal insbesondere auf den Intensivstationen in den Entnahmekrankenhäusern.
Zudem wird in Spanien viel Wert darauf gelegt, am Lebensende den Wunsch des Patienten in Bezug auf eine Organspende zu berücksichtigen und umzusetzen. Das Denken an die Organspende am Lebensende eines Patienten ist in Spanien eine absolute Selbstverständlichkeit. Klinikleitung und Mitarbeiter der Kliniken sind stolz auf ihr Engagement in der Organspende und die internationale Reputation, die Spanien damit gewonnen hat.
esanum: Welche Vor- und Nachteile sehen Sie bei der Einführung der Widerspruchslösung?
Rahmel: Die Widerspruchslösung allein wird an dem derzeitigen Organmangel nichts ändern, wenn nicht gleichzeitig die Rahmenbedingungen für die Krankenhäuser verbessert werden. Denn hier müssen mögliche Spender im ersten Schritt erkannt werden. Die Einführung einer Widerspruchslösung würde dazu beitragen, dass das Denken an die Organspende am Lebensende in den Kliniken zur Selbstverständlichkeit wird. Die Organspende wäre dann die Normalität und nicht mehr die Ausnahme. Das würde sicherlich auch die Arbeit für die Ärzte in den Klinken erleichtern.
Für die DSO ist es von zentraler Bedeutung, den Willen des Verstorbenen am Lebensende umzusetzen. Leider hat sich derzeit nur eine Minderheit der Bundesbürger zum Thema Organspende im Organspendeausweis oder einer Patientenverfügung schriftlich geäußert oder dieses Thema mit ihren Angehörigen besprochen. Daher müssen dann die Angehörigen über die Organspende entscheiden – auf der Basis des mutmaßlichen Willens des Verstorbenen oder nach eigenen Wertvorstellungen.
In den Niederlanden soll eine moderate Form der Widerspruchslösung eingeführt werden, die die Autonomie des Einzelnen in den Vordergrund stellt und auf eine informierte Entscheidung setzt. Dort wird dann jeder Bürger ab 18 Jahren mehrfach angeschrieben, über die Organspende ausführlich informiert und gefragt, ob er nach dem Tod Organe spenden will oder nicht. Wer sich auf diese wiederholte Aufforderung nicht äußert, wird im Register als jemand geführt, der der Organspende nicht widersprochen hat. So kann zwischen Verstorbenen, die der Organspende explizit zugestimmt haben und denen, die nicht widersprochen haben, differenziert werden und dies bei der Einbeziehung der Angehörigen vor einer Organspende berücksichtigt werden.