Technik und Digitalisierung sind längst fester Bestandteile vieler Lebensbereiche des Menschen oder befinden sich auf dem Weg, ein fester Bestandteil zu werden – das gilt auch für das Gesundheitswesen. Diese Entwicklung bringt sowohl neue Aufgaben als auch neue ethische Fragen mit sich. Im esanum-Interview erläutert Prof. Dr. Karen Joisten, Fachliche Leitung des Zertifikatsstudiengangs Technoethik an der TU Kaiserslautern, wie durch kritisches Hinterfragen der Technik und Technologie auf einer Grundlegungs- und Anwendungsebene neue Impulse für einen verantwortungsvollen Umgang mit technischen Neuerungen gewonnen werden können.
esanum: Frau Professor Joisten, wie wurde der Studiengang "Technoethik" ins Leben gerufen?
Joisten: Es war mir schon seit geraumer Zeit ein wichtiges Anliegen, ein Studienangebot zu entwickeln, das sich explizit den ethischen Herausforderungen der technischen Transformation der menschlichen Lebenswelt und Praxis widmet. Der Studiengang Technoethik versteht sich als integratives Studienangebot, das aus theoretischer, aber auch anwendungsorientierter Perspektive die Möglichkeit bietet, sich mit den drängenden ethischen Fragen der Gegenwart und der Zukunft auseinanderzusetzen und ein ethisches Fachwissen zu erwerben. An der TU Kaiserslautern liegt der Schwerpunkt des Fachgebietes Philosophie insbesondere in der Ethik. In gemeinsamer Reflexion und Diskussion mit meinem Kollegen, Herr Prof. Dr. Neuser, konnten wir im Jahr 2018 mit der Planung des Zertifikatsstudiengangs am Distance and Independent Studies Center beginnen.
esanum: Einen besonderen Studienschwerpunkt bietet das Spezialisierungszertifikat "Technoethik der Medizin". Welche Ergänzungen werden hier im Vergleich zum Basisstudium geboten?
Joisten: Das Basisstudium dient dazu, ethische Grundlagen und Grundpositionen kennen und verstehen zu lernen. Neben Grundlagen, Grundpositionen und Grundbegriffen der Ethik werden im Basisstudium auch Kenntnisse über die Bereiche der angewandten Ethik, der Technikfolgenabschätzung und der Zielsetzung der Technoethik erworben.
Im zweiten Semester erfolgt eine Spezialisierung, wobei konkrete ethische Felder der digitalen Transformation im Gesundheitswesen ins Zentrum gerückt werden. Inhalte des Spezialisierungszertifikats sind Chancen und Risiken angesichts der digitalen Transformation des Gesundheitswesens, Anwendungsbereiche digitaler Technologien im Gesundheitswesen sowie der Aspekt: Ethische Orientierung im digital transformierten Gesundheitswesen.
esanum: Welche konkreten Ansätze können Medizer:innen für ihre tägliche Arbeit aus dem "Technoethik"-Studiengang mitnehmen?
Joisten: Medizer:innen sind in ihrer beruflichen Praxis konstant in Berührung mit menschlichen Moralen und mit den ganzen Konfliktpotenzialen, die immer durch die Pluralität von Moralvorstellungen gegeben sind. Diese heben sich durch die digitale Transformation des Gesundheitswesens nicht auf. Es gehört zum Berufsethos im Gesundheitswesen verantwortlich und (ethisch) gut zu handeln, wozu es der ethischen Orientierung und Orientiertheit bedarf. Die Inhalte des Studienganges sind so konzipiert, dass die Medizer:innen sowohl ethisches Fachwissen als auch die Fähigkeit zur ethischen kritischen Reflexion erwerben können, um im jeweiligen Praxisfeld ethisch angemessen handeln, beurteilen und entscheiden zu können.
esanum: Wie viele CME-Punkte können für die Teilnahme am Studiengang erworben werden und welche Leistungen müssen hierfür erbracht werden?
Joisten: Neben dem Abschlusszertifikat und im Rahmen der erfolgreichen Teilnahme an der Spezialisierung "Technoethik der Medizin" können die Studierenden 100 Fortbildungspunkte (CME-Punkte) erwerben. Hierzu ist die erfolgreiche Absolvierung des Studienganges erforderlich, wozu die Bearbeitung der Studienbriefe, das Erbringen der Prüfungsleistungen sowie die Teilnahme an zwei Präsenzphasen (jeweils ein Wochenende am Semesterende) gehören.
esanum: Kurz zusammengefasst: Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Chancen und Risiken in der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Joisten: Die Digitalisierung kann Ferne entfernen. Sie kann ein grandioses diagnostisches und therapeutisches Hilfsmittel sein. Sie kann Verwaltungszeiten reduzieren – und vieles mehr. Digitalisierung kann und darf aber niemals zum Universallösungsprodukt deklariert werden. Das Gesundheitswesen ist ein Bereich der menschlichen Nahsphäre, in dem es um die Grundgüter und Grundwerte des Menschen hinsichtlich seines Lebens und seiner Gesundheit geht. Ein großes Risiko der Digitalisierung liegt darin, ihren Hilfsmittelstatus aus den Augen zu verlieren und zu denken, jeder Aspekt im Gesundheitswesen könne durch Digitalisierung optimiert werden.
esanum: Welche sind Ihrer Meinung nach die dringendsten technoethischen Fragen, die sich in der Medizin derzeit stellen?
Joisten: Auffällig ist, dass im Vergleich zu der näheren Vergangenheit der Ruf nach ethischen Leitlinien immer stärker wird. Dies ist ein Zeichen dafür, dass nicht nur gesetzliche sondern gerade ethische Orientierung als Bedarf anerkannt wird. Hiervon ist der ganze Gesundheitsbereich betroffen – medizinische Forschung miteingeschlossen.
Mit der technischen Transformation der Lebenspraxis verwandelt sich der Status von Technik, was insbesondere am Beispiel der Mensch-Maschine-Interaktion deutlich wird, die ein zentraler Aspekt im Pflegebereich ist. Es lassen sich nicht zwei oder drei primäre technoethische Fragen gegenüber anderen hervorheben, denn die jeweils leitenden technoethischen Herausforderungen ergeben und stellen sich immer in und aus den konkreten Praxisfeld, mit dessen spezifischen ethischen Herausforderungen.
esanum: Inwieweit sind Ärztinnen und Ärzte im Berufsalltag mit diesen Fragen konfrontiert?
Joisten: Das medizinische Berufsfeld verändert sich durch die Digitalisierung stark. Dennoch geht es hier immer um den Menschen, um das (möglichst) Gute für den Menschen. Solange der Mensch im Mittelpunkt der Praxis steht, solange sind alle im Gesundheitswesen Tätigen konstant mit (techno-)ethischen Fragen konfrontiert.
esanum: Thema Datenschutz: Der Austausch von Patientendaten ist in Deutschland sehr streng reglementiert - andererseits würde die Forschung von einer weniger strengen Regelung profitieren. Wie bewerten Sie dieses Dilemma und worauf kommt es Ihrer Meinung nach an?
Joisten: Patientendaten sind sehr wichtig. Sie sind Chance und Risiko und als solche müssen sie gesehen und ethisch reflektiert werden. Aus ethischer Perspektive gilt es immer zu bedenken, dass die Daten einer Person menschliche Grundwerte wie u. a. Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmtheit, Gerechtigkeit zutiefst tangieren und moralische Anspruchs- und Abwehrrechte betreffen. Das von Ihnen angesprochene Dilemma hat die Frage nach der Selbstbegrenzung der Forschung zum Gegenstand, das aus ethischer Perspektive zur Frage nach der Verantwortung von Forschung führt. Ein großes Problem sehe ich darin, dass diese Frage noch zu wenig gemeinsam diskutiert wird. Sie muss immer wieder neu diskutiert werden, da sie niemals universal beantwortet werden kann. Nur im gemeinsamen Diskurs kann man angemessen ethischen Dilemmata begegnen, denn in der Sache des Dilemmas liegt, das es nicht die eine richtige Antwort gibt.