Digitalisierung in der Diabetologie: bessere Werte, geringere Kosten, mehr Zeit für den Patienten?!

Symposium zum neuen Trend in der Diabetologie: durch die Digitalisierung können dringend benötigte Fortschritte in der Diabetes-Versorgung erzielt werden.

"Data is the new oil!"

Was bringt die Digitalisierung? Kurz gesagt: bessere Behandlungsergebnisse zu reduzierten Kosten und mehr Zeit für kompetente Gespräche mit dem Patienten – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Konkrete Beispiele für die neuen Entwicklungen wurden in einem Symposium beim DDG Kongress 2017 präsentiert.

Über das Ob der Digitalisierung muss man nicht mehr reden, es geht nur noch um das Wie. "Data is the new oil!" konstatierte der Münchener Diabetologe PD Dr. Martin Fürchtenbusch. Tatsächlich sind – insbesondere nutzergenerierte – Daten heute der Rohstoff, mit dem neue Geschäftsfelder und ganze Industrien entstehen und die alten revolutioniert werden.

Das gilt auch und erst recht für so eine datengetriebene Branche wie das Gesundheitswesen. Mit den vielen, von den Patienten zunehmend selbst erhobenen Messwerten kommt der Diabetologie hierbei durchaus eine Vorreiterrolle zu.

„Digitalisierung ist Empowerment pur“

Zwar ist der Überbegriff der Digitalisierung vielfältig interpretierbar, im Grunde geht es aber um das Sammeln, Verarbeiten, Analysieren und Verwerten von massenhaft anfallenden Daten. Für die Diabetologie bedeutet das, sie für das Selbstmanagement der Patienten, zur Therapieoptimierung und für die Forschung nutzbar zu machen.

 "Digitalisierung ist Empowerment pur", betonte der Schulungs-Experte Prof. Bernhard Kulzer vom Diabetes Zentrum Bad Mergentheim. Die Patienten können ihren HbA1c-Wert selbst bestimmen, analysieren und steuern. Deshalb sind Patient-Support-Systeme immer mehr im Kommen, die eine wiederkehrende statt strukturierte Schulung und konkrete Informationen und Ratschläge in Echtzeit ermöglichen.

70 Millionen Daten sind von Anwendern bis Juni 2016 bei Glooko eingegeben  worden, der führenden globalen Plattform für Diabetes-Management, die Fürchtenbusch als Beispiel für die internationale Entwicklung erwähnte. Laut Angaben der amerikanischen Firma ist das Serviceangebot kompatibel mit 93% aller Glukometer und 98% aller Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM).  Mit Hilfe der Fernüberwachung konnten 60% bzw. 65% der Nutzer ihr Risiko für Hypoglykämie- bzw. Hyperglykämie-Ereignisse um jeweils 10% reduzieren.

Treiber der Digitalisierung (auch) in der Diabeteologie ist also die  freiwillige Datenabgabe. Und: „Hausärzte, die Big Data nutzen, schneiden besser ab“, so Fürchtenbusch.

Mobiles Patienten-Coaching senkt HbA1c und Gewicht

In einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) konnten von Hausärzten mobil gecoachte Diabetes-Patienten ihren HbA1c-Wert innerhalb von 12 Monaten um durchschnittlich 1,9% senken und damit deutlich stärker als  allein mit der Standard-Behandlung im Kontrollarm (-0,7%).

Auch bei länger bestehender Blutzuckerkrankheit sind multimodale Interventionsprogramme sinnvoll und hilfreich. Das zeigen die Ergebnisse einer anderen RCT-Studie, an der rund 200 Patienten mit Typ-2-Diabetes und einer Erkrankungsdauer von 11 Jahren teilnahmen. Ihr HbA1c-Wert konnte innerhalb von 12 Wochen um 1% und das Gewicht um 6 kg gesenkt werden. Der Verbesserungseffekt beim HbAc nahm in der Folgezeit ohne Intervention zwar ab, die Differenz zum Ausgangswert betrug aber nach 26 Wochen noch 0,8%  und nach 52 Wochen immer noch relevante 0,5%. Das niedrigere Gewichtsniveau konnten die Patienten auch nach einem Jahr beibehalten.

Digitalisierung könnte helfen, die therapeutische Trägheit zu überwinden

Durch die Digitalisierung, so die Hoffnung, können dringend benötigte Fortschritte in der Diabetes-Versorgung  erzielt werden. Laut Diabetes-Atlas 2015 der International Diabetes Federation erreichen trotz zahlreicher pharmakologischer und technologischer Optionen nur 13% der Menschen mit Diabetes ihr Behandlungsziel. Dabei wird der Diabetes nur bei 50% der Betroffenen diagnostiziert und bei 25% behandelt.

Die Digitalisierung könnte helfen, die dafür verantwortliche "therapeutische Trägheit" zu überwinden, sagte der Geschäftsführer von Roche Diabetes Care Deutschland, Lars Kalfhaus. Im Idealfall entsteht ein Positivkreislauf: Die Digitalisierung verschafft über die Datenverarbeitung schneller mehr Überblick, hilft Zeit zu sparen, Prozesse effizienter zu machen und schneller wichtige Therapieentscheidungen zu treffen. Ärzte haben mehr Zeit für ihre Patienten und diese verbringen mehr Zeit im Zielbereich.

Dass sich die therapeutische Trägheit durch Patientencoaching via Telemedizin überwinden lässt, konnte der Roche-Manager mit einer erfolgreichen Studie aus dem eigenen Haus belegen, die mit der Schwenninger Krankenkasse über 2 Jahre durchgeführt wurde.

Dabei unterstützte die auf neuen Algorithmen basierende Software Accu-Check Smart Pix 3.0 die behandelnden Ärzte durch eine automatisierte Mustererkennung. An der Studie nahmen Insulinpumpen-Patienten mit nicht zufriedenstellender Stoffwechseleinstellung teil. Sie erhielten quartalsweise „care calls“ auf der Basis der Übersendung von Echtdaten aus dem Akku-Chek Connect-Portal und eine Zielvereinbarung für die nächsten 3 Monate.

Es wurden dabei keine therapeutischen Anweisungen, sondern Feedback in Bezug auf Ernährung, Bewegung und Lebensstil gegeben. Durch die Intervention konnten der HbA1c-Werts um über 0,4% auf 7,3% gesenkt und die Zahl der Hypoglykämien mehr als halbiert werden.

Die Grundvoraussetzungen sind keine ärztliche Aufgabe

Die Diabetologin Dr. Sandra Schlüter aus Northeim benannte die Grundvoraussetzungen für einen gelingenden Digitalisierungsprozess in der ärztlichen Praxis: Datensicherheit, Datenschutz, Interoperabilität, Rechtssicherheit und Vergütung – alles Themen, die nicht in der Hand des praktizierenden Arztes liegen.

Dass Datenschutz und Datensicherheit zwei verschiedene Paar Stiefel sind, machte der Jurist Dr. Thorsten Thaysen klar. Es geht darum, die Diabetes-Daten sinnvoll zu nutzen und sicher zu schützen.

"Die ärztliche Schweigepflicht besteht nur für die unbefugte Datenweitergabe", stellte Thaysen klar. Er empfahl, auf eine Zertifizierung der Produkte zu achten. Aber wer ist die verantwortliche Stelle, wenn der Datenserver z.B. in den USA steht? Thaysen sieht hier am ehesten den Hersteller in der Pflicht, nicht den verordnenden Diabetologen und auch nicht die Krankenkasse. Allerdings konstatierte er: "Das ist meine persönliche Meinung. Eine gültige Rechtsprechung gibt es dazu noch nicht."

"Wenn wir es richtig machen, gibt es eine Rehumanisierung"

Die Juristerei hinkt der rasanten Entwicklung hinterher, die auch neue ethische Fragen aufwirft. Mehr Daten können auch mehr Nachteile bedeuten, die Patienten werden sehr transparent. Andererseits führen mehr Daten auch zu mehr Einblick, der ein besseres Besprechen der Patientenbelange und damit auch ein besseres Arzt-Patienten-Verhältnis ermöglicht.

Die verbreitete Sorge um eine digitale Dehumanisierung der Medizin mochten die Referenten des vom Kongresspräsidenten Prof. Dirk Müller-Wieland geleiteten Symposiums jedenfalls nicht teilen, im Gegenteil: "Wenn wir es richtig machen, gibt es eine Rehumanisierung, da mehr Zeit für den Patienten zur Verfügung steht, wenn die Technik im Hintergrund arbeitet", so Kalfhaus.

Referenz:

Ein Megatrend erreicht die Diabetologie: Wie die Digitalisierung den Praxisalltag verändert. Industriesymposium der Roche Diabetes Care Deutschland GmbH beim Diabetes Kongress 2017. Hamburg, 25. Mai 2017.