Die furchtbaren Szenen aus Italien und Spanien sind unvergessen: ÄrztInnen müssen Corona-Erkrankte aufgeben, weil sie nicht alle versorgen können. Auch in Deutschland haben Menschen Angst, aussortiert zu werden. Sie klagen in Karlsruhe für verbindliche Vorgaben.
Es ist für viele in der Corona-Pandemie ein Horrorszenario, wenn ÄrztInnen bei Behandlungsengpässen Patienten aufgeben müssen - staatliche Vorgaben für die Entscheidung zwischen Leben und Tod wird es vorerst aber nicht geben. Einen Eilantrag mehrerer KlägerInnen mit Behinderungen und Vorerkrankungen wies das Bundesverfassungsgericht ab. Sie wollten damit die verbindliche Regelung der Triage erzwingen. Ihre Verfassungsbeschwerde ist aber weiter anhängig.
Sollten sich sehr viele Menschen gleichzeitig anstecken, droht die Gefahr, dass es nicht für alle Schwerkranken Platz auf der Intensivstation gibt. Zum Beispiel könnten Beatmungsgeräte knapp werden. ÄrztInnen müssten dann entscheiden, wen sie retten und wen nicht.
In Italien und Spanien hat es solche schlimmen Szenen schon gegeben. Deutschland ist bisher verschont geblieben. Für den Fall, dass es doch einmal so weit kommen sollte, haben mehrere medizinische Fachgesellschaften gemeinsam Empfehlungen erarbeitet. Entscheidendes Kriterium soll danach sein, welche PatientInnen die größeren Überlebenschancen haben. Eine Einstufung nach Alter, Vorerkrankungen oder Behinderungen soll es ausdrücklich nicht geben dürfen.
Die neun KlägerInnen befürchten, im Ernstfall trotzdem auf der Strecke zu bleiben. Statistisch gesehen hätten sie die schlechteren Aussichten zu überleben. Mit ihrer Verfassungsklage wollen sie erreichen, dass der Gesetzgeber die Entscheidungskriterien vorgibt. Regelungen für die Zwischenzeit sollten von einem Gremium kommen, in dem auch behinderte Menschen vertreten sind. Dessen Einsetzung wollten die KlägerInnen mit dem Eilantrag erzwingen.
Die RichterInnen lassen sich aber nicht treiben. Die Verfassungsbeschwerde werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten, teilte das Gericht mit. Große Eile sei auch nicht geboten: Die Verbreitung der Krankheit und die Auslastung der Intensivstationen lasse es im Moment nicht wahrscheinlich erscheinen, dass eine Triage-Situation eintrete. Der Beschluss stammt von Mitte Juli - seither ist die Zahl der Infizierten wieder gestiegen.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich gegen staatliche Vorgaben ausgesprochen. "Gesetzgeberischer Handlungsbedarf zu diesen medizinethischen Fragen besteht nicht", antwortete sein Ministerium im April den Grünen im Bundestag und verwies auf die Leitlinie der Fachgesellschaften und eine Empfehlung des Deutschen Ethikrats.
Allerdings unterstützen auch die AutorInnen der Leitlinie die Forderung der KlägerInnen nach einer gesetzlichen Grundlage. Die Rechtsunsicherheit sei für die Ärzteschaft eine unzumutbare Belastung, heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
Der Kläger-Anwalt Oliver Tolmein erklärte, das Gericht habe "deutlich gemacht, dass es die weitreichende Bedeutung dieser Fragen sieht". Der Gesetzgeber dürfe sich "nicht einfach wegducken und darauf setzen, dass die betroffenen Menschen mit Behinderungen und die Entscheidungszwängen unterliegenden medizinischen Behandlungsteams diese Konflikte untereinander austragen".
Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz sagte, jetzt sei der Bundestag in der Pflicht, ein ethisches Regelwerk zu erlassen. "Denn nur die Abgeordneten haben das Recht, verbindliche gesetzgeberische Entscheidungen zu treffen."