Zu spät und zu wenig ernsthaft sei die spezifische Vulnerabilität bestimmter gesellschaftlicher Gruppen erkannt worden, so die Ratsvorsitzende Professor Elena Buyx. In der ersten Welle seien es alte und pflegebedürftige Menschen gewesen, die in hohem Maße gefährdet waren, in den dann folgenden Wellen Kinder und Jugendliche als Folge von Lockdowns. Akut habe dies zu erheblichen psychischen Belastungen geführt, langfristig seien Bildungschancen nachhaltig und überdies auch mit einem starken sozialen Gradienten vermindert worden.
Aus der Analyse des Pandemieverlaufs, der daraus resultierenden staatlichen Schutzvorkehrungen und ihrer Folgen hat der Ethikrat eine Reihe von Empfehlungen abgeleitet: Pandemien erfordern politische Entscheidungen; sie müssen bei Zuspitzung der Lage schnell und konsequent, aber auch wissenschaftlich informiert, ethisch reflektiert und demokratisch legitimiert sein – bei wesentlichen Fragen durch die Parlamente von Bund und Ländern. In die Willensbildung müssten besonders Betroffene aktiv einbezogen werden.
Die Rechtfertigung von Schutzmaßnahmen muss evidenzbasiert sein und setzt umfangreiche qualitative und quantitative empirische Daten voraus. Diese Daten müssen nicht nur Aufschluss über Infektionswege und gruppenspezifische Risiken und die daraus resultierenden geeigneten Sicherheitsmaßnahmen geben, sondern auch deren Folgewirkungen beschreiben. Zugleich müssen Daten über sekundäre Gesundheitsfolgen, zum Beispiel Folgen verschobener oder gar nicht stattfindender Behandlungen chronischer, insbesondere auch psychischer Erkrankungen, erhoben werden. Dabei müssen soziale Ungleichheit, prekäre Lebenslagen oder Diskriminierung beachtet werden, um besonders vulnerable Gruppen gezielt zu schützen.
Es sei ein "wichtiges Versäumnis", so Buyx, dass die systematische Datenerhebung, die Nachverfolgung von Infektionsketten und die Erhebung von Nebeneffekten von Pandemiemaßnahmen nicht funktioniert haben. Sie begrüßte in diesem Zusammenhang die Absicht des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen, zu den Resilienzfaktoren und Datenflüssen in der Gesundheitsversorgung ein Gutachten zu erarbeiten.
Künftig werde es nicht mehr ausreichen, in einer Krisensituation "auf Sicht" zu fahren. Notwendig sei die Entwicklung einer Gesamtstrategie, wie die Pandemie über die gesamte Dauer auf den jeweiligen Zeitpunkt angemessen kontrolliert werden kann. Undifferenzierte Freiheitsbeschränkungen (zum Beispiel Lockdowns) sollten so kurz wie möglich gehalten werden.
Bei allen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie müssen die Menschenwürde – das nach Auffassung des Ethikrates einzige absolute Grundrecht – und ferner „der Kern der Grund- und Menschenrechte geschützt werden. "Zuallererst" müsse verhindert werden, "dass Menschen gezwungen sind, alleine, ohne Begleitung durch nahestehende Personen oder spirituellen Beistand zu sterben". Die Achtung der Menschenwürde gebiete außerdem, Situationen vorzubeugen, in denen Triage-Entscheidungen notwendig werden. Eine dadurch mögliche Gefährdung behinderter Menschen müsse der Gesetzgeber verhindern. Zur Menschenwürde gehöre auch, ein Mindestmaß an sozialen Kontakten zu gewährleisten.
Bei allen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung müssten daher soziale Dienste, Ablaufstellen und Schutzräume für Menschen in Notsituationen, zum Beispiel bei häuslicher Gewalt, funktionsfähig bleiben. Der Kern wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte sei bedroht, wenn beispielsweise Kinder und Jugendliche vollständig von Bildung ausgeschlossen werden, zum Beispiel wenn eine Teilnahme am digitalen Unterricht aufgrund von Barrieren oder fehlender technischer Infrastruktur nicht möglich ist.
Essenzielle gesellschaftliche Institutionen müssen krisenfest ausgestaltet sein. Das betreffe besonders den Bereich des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesens. Notwendig sei eine Organisations-und Personalausstattung, die es in der Krise erlaubt, über freie oder kurzfristig zu generierende Ressourcen zu verfügen.
Der Ethikrat spricht in seiner Bilanz und den Empfehlungen auch eine Reihe von Einzelthemen an. Die wichtigsten:
Priorisierung und Triage: Bislang gebe es weder national noch international allgemein anerkannte Regeln zum Umgang mit Triage-Entscheidungen. Es sei wünschenswert, wenn unter der Regie des Weltärztebundes oder der WHO möglichst einheitliche Empfehlungen erarbeitet würden.
Die Rolle der Wissenschaft: In bislang ungewohnter Weise seien politische Entscheidungen mit Erkenntnissen aus der Wissenschaft als bloße Übersetzung wissenschaftlich gesicherter Faktenlage gerechtfertigt worden. Der Ethikrat stellt dazu fest: Die Wissenschaftsgemeinschaft generiert "keine letztverbindlichen und unumstößlichen Wahrheiten..., weil empirisches Wissen grundsätzlich vorläufig und fallibel ist". Diese Vorläufigkeit müssten wissenschaftliche Experten gegenüber Politik und Öffentlichkeit "unmissverständlich explizit machen". Wissenschaftler müssen dabei auch die Eigenlogik und Eigenverantwortung der Entscheidenden im politischen Bereich respektieren. Die Letztverantwortung liege beim gewählten Souverän: den Parlamenten.
Die Rolle der Medien: Massenmedien und insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk haben gerade in Krisenzeiten die Aufgabe, das strittige Für und Wider von Maßnahmen hör- und sichtbar zu machen. Der kritische Teil dieser Aufgabe sei "zu Beginn der Krise nicht immer im wünschenswerten Maß erfüllt" worden.