Neue Zahlen der britischen Stiftung für Krebsforschung Cancer Research UK besagen, dass es mittlerweile doppelt so viel Übergewichtige wie Rauchende in Großbritannien gibt. Laut Studien verursacht Übergewicht jährlich 1.900 Fälle von Darmkrebs mehr in Großbritannien als durch Rauchen verursacht werden. Bei Nierenkrebs sind es 1.400 Fälle mehr, bei Eierstockkrebs 460 und bei Leberkrebs 180. Während die Anzahl aktiv Rauchender ständig sinkt, steigt hingegen die Anzahl übergewichtiger Personen.
Anlässlich dieser Zahlen hat Cancer Research UK eine landesweite Media-Kampagne gelauncht, die Zigarettenpackungen mit der Warnung "Übergewicht verursacht auch Krebs" (Obesity causes cancer too) zeigt. Auf dem unteren Teil der Schachtel befindet sich ein Hinweis, der besagt "Wie Rauchen setzt auch Übergewicht Millionen Erwachsene einem erhöhten Krebsrisiko aus" (Like smoking, obesity puts millions of adults at greater risk of cancer).
Als Aufrüttler gedacht, um zu zeigen, wie effektiv (im Fall von Tabakwerbung) Regierungsmaßnahmen Konsumverhalten beeinflussen können und um ein generelles Bewusstsein für die Risiken von Übergewicht zu schaffen, stieß die Kampagne jedoch auf harsche Kritik bis hin zum Vorwurf, jahrelange Arbeit in Sachen Anti-Fat-Shaming zunichte zu machen. Besonders in den sozialen Netzwerken wurde protestiert.
Von Befürchtungen, dass Menschen mit einem erhöhten BMI bald der Zugang zu Krebstherapie versagt werden könne bis hin zum Vorwurf zusätzlicher Stigmatisierung ohne gleichzeitiges Hilfsangebot und der Schaffung zusätzlicher Schuldgefühle, indem Übergewichtige nun selbst für ihr Krebsleiden verantwortlich seien, reichten die Reaktionen bei Twitter.
Und tatsächlich wird mit dieser Kampagne in ein emotional hoch aufgeladenes Wespennest gestochen, denn sie operiert mit den Ängsten und der Scham von Menschen. Ganz im Sinne einer neoliberalen Politik wird – auch wenn dies laut Cancer Research UK nicht beabsichtigt war – die Verantwortung für die eigene Gesundheit ins Private verlagert. Als ob man die Wahl zwischen Gesundheit und Krankheit hätte, je nachdem für welchen Lebensstil man sich entscheidet.
Außer Acht gelassen werden dabei Prädispositionen, soziale und kulturelle Hintergründe sowie persönliche Lebensumstände und die Tatsache, dass man mit dem Essen, anders als mit dem Rauchen, nicht aufhören kann, da der Körper Nahrung benötigt. Stattdessen ist Übergewicht noch immer assoziiert mit Willensschwäche und mangelnder Disziplin und Fürsorge für den eigenen Körper.
Andererseits scheint es gerechtfertigt, Anti-Raucher-Kampagnen sogar noch aggressiver zu führen. Diese operieren mit expliziten Bildern von Amputationen oder Tumoren, mit Todesdrohungen und Schuldgefühlen gegenüber Angehörigen und Freunden. Hier heiligt der Zweck offenbar die Mittel – wer trotz Kenntnis der Gefahren noch immer raucht, darf nicht sensibel sein und muss gesellschaftliche Ächtung akzeptieren. Der Aufschrei innerhalb der Gesellschaft bleibt aus, es gibt auch keine Solidaritätsbekundungen. Obwohl Nikotinsucht und die Schwierigkeiten der Entwöhnung bekannt sind, fehlt es an Hilfsangeboten. Die Strategie heißt Abschreckung – und sie ist wirksam, wie die Zahlen belegen.
Warum also wird ein ähnliches Vorgehen im Falle von Übergewicht in die moralische Schmuddelecke gedrängt? Warum ist es offenbar gerechtfertigt, RaucherInnen massivem gesellschaftlichen Druck auszusetzen, nicht aber Übergewichtige? Weil mehr Menschen befürchten, auch irgendwann zum Kreis der Dicken zu gehören? Weil Rauchen eine freie Entscheidung ist, Essen hingegen nicht?
Bei diesen Fragen muss man vielleicht ansetzen, um die komplexen Mechanismen zu verstehen, die beim Protest gegen die Kampagne von Cancer Research UK im Gange sind. Außerdem sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei der Media-Kampagne lediglich um einen Teil einer wesentlich größer angelegten Aktion handelt, die vor allem darauf ausgelegt ist, Kinder und Jugendliche vor den Folgen von Übergewicht zu schützen, indem beispielsweise Fernsehwerbung für Fast Food und Süßigkeiten vor neun Uhr abends verboten wird.
Den Vorwurf, die Stiftung gebe keine Hilfsangebote, kann man jedenfalls entkräften. Ein Blick auf die Website von Cancer Research UK zeigt, dass mit zahlreichen, frei erhältlichen Publikationen sowohl Betroffenen als auch Ärztinnen und Ärzten und anderen Akteuren des Gesundheitswesens Instrumente an die Hand gegeben werden, um über die Zusammenhänge zwischen Übergewicht und Krebserkrankungen aufzuklären. Hier finden sich zahlreiche Tipps zum Erreichen eines gesunden Gewichts als auch Vorschläge, wie man Betroffene in der Arztpraxis oder Apotheke sensibel auf das Thema Gewicht ansprechen und ein Bewusstsein schaffen kann. Im Vordergrund steht hier klar die Berücksichtigung der psychosozialen Rahmenbedingungen und das Bemühen um individuelle, produktive Lösungsansätze.
Quellen:
https://www.cancerresearchuk.org/
https://medium.com/@laura_86024/an-open-letter-to-cancer-research-uk-19ecaa71b263