Bundesweit gibt es deutlich weniger Fachärztinnen als Fachärzte. Und nur jeder 10. Chefarzt-Posten ist in weiblicher Hand. Das liegt nicht nur an schlechten Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz, sondern auch an den Frauen selbst. Sie unterschätzen sich oftmals, vermutet eine Neurologin.
Abiturientinnen oder Abiturienten interessieren sich vergleichbar häufig für ein Medizinstudium – mit leichtem Überschuss beim weiblichen Geschlecht. Trotzdem schließen deutlich weniger Neurologinnen als Neurologen ihre Facharzt-Ausbildung ab. Und Chefarzt-Posten sind nach wir vor in männlicher Hand. Prof. Dr. Ricarda Diem von der Abteilung Neurologie am Universitätsklinikum Heidelberg machte sich auf die Suche nach Ursachen – und nach möglichen Lösungen für mehr Gender-Gerechtigkeit.
Dazu ein paar Zahlen. Im Jahr 2017 gab es Statistiken der Bundesärztekammer zufolge 371.302 berufstätige Ärzte und 170.685 berufstätige Ärztinnen. Ohne Gebietsbezeichnung, sprich ohne Facharzt-Abschluss, waren 9.543 Ärzte und 64.690 Ärztinnen. Es gab 6.451 Neurologen und 2.763 Neurologinnen. Auch in der Chirurgie (35.324 Männer versus 6.751 Frauen) in der Anästhesiologie (22.875 Männer versus 9.632 Frauen) oder in der Radiologie (7.969 Männer versus 2.708 Frauen) sah die Sache ähnlich aus: ein Trend, der sich durch alle Facharzt-Richtungen zieht wie der berühmte rote Faden.
Doch wie kommt es zu dem Unterschied? Um das zu erklären, teilt Diem medizinische Karrieren in neun Stufen ein. "Wir sehen beim Studium selbst und beim Studienabschluss mehr Frauen", sagt die Neurologin. „Bei der Promotion und bei der Karrierestufe Ärztin oder Arzt ohne Weiterbildung ist das Verhältnis annähernd gleich.“ Doch die Schere gehe ab Ärztin oder Arzt mit Weiterbildung auseinander. Es gibt ca. 30% Oberärztinnen, 20% habilitierte Ärztinnen, 12% leitende Oberärztinnen und 10% Chefärztinnen. Diems Erklärung: "Zur Facharztprüfung, also ungefähr Anfang bis Mitte 30, tickt die biologische Uhr immer lauter." Das erkläre, warum es mehr Ärztinnen als Ärzte ohne Facharzt-Bezeichnung gebe.
Wohin Ärztinnen verschwinden, lässt sich der Statistik nicht entnehmen. Es gibt jedoch Trends für die gesamte Bevölkerung. Demnach arbeiten nur 9% aller Mütter mit 3-jährigen Kindern in Vollzeit. Ihr Anteil steigt auf 16% (Kinder zwischen 3 und 5), 19% (6 bis 9) und 23% (10 bis 14) bis auf 28% (15 bis 17). "Überraschend ist, dass die Vollzeittätigkeit bei Männern in den gleichen Zeiträumen nur marginal zwischen 76% und 79% schwankt", kommentiert Diem. Deutsche Mütter würden überwiegend in Teilzeit arbeiten; das sei bei Ärztinnen nicht anders. "Liegt es an der Institution, sprich an Kliniken, oder an Frauen selbst?", fragt die Referentin. Sie findet Hinweise, dass beide Hypothesen ihre Berechtigung haben.
Diem sieht Arbeitgeber in der Pflicht, Frauen besser zu unterstützen. Es gebe zwar Kitas und Kinderbetreuung auf Kongressen, das reiche aber nicht aus. In ihrem Vortrag fasst sie zusammen, was Kliniken noch anbieten sollten: flexible Arbeitszeiten, Weiterbildungen oder Besprechungen (nur) während der Arbeitszeit, Homeoffice soweit möglich und Modelle für eine Karriere in Teilzeit. Sie selbst sei "nach langem Überlegen für eine Frauenquote" und bringt das Kaskadenmodell von Prof. Dr. Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), ins Gespräch: Frauen werden so lange gefördert, bis ihr Anteil auf einer Hierarchieebene der Ebene darunter entspricht. Gibt es beispielsweise 50% Doktorandinnen, muss der Anteil von Fachärztinnen auf einem ähnlichen Wert sein.
Mit Forderungen an Universitäten oder Klinken ist es nicht getan. Diem nimmt ihre Geschlechtsgenossinnen ebenfalls in die Pflicht. "Viele Frauen bremsen sich selbst aus", erzählt die Neurologin. Sie würden etwa bei einer Stellenausschreibung lange zögern, Argumente abwägen – und eventuell beschließen, noch ein Jahr zu warten, bis die nächste Karrierestufe erstrebenswert wäre. "Ein Mann riskiert es und bewirbt sich einfach." Apropos Selbstvertrauen: "Warum sitzen Männer in der Röntgenkonferenz meist vorne und Frauen hinten", will Diem wissen. Auch das allseits gepriesene Mentoring sei kein Zaubermittel für Ärztinnen – Mentoren seien "weder Prinz noch Psychotherapeut". Nicht zuletzt seien in vielen männlichen und weiblichen Köpfen noch Klischees zu finden: die gestresste Frau als "Rabenmutter mit Aktentasche".
"Gleichberechtigung ist nur gemeinsam möglich", so Diems Fazit. Sie fordert mehr Unterstützung ein: von Männern, egal ob es sich um Vorgesetzte, Kollegen oder Partner handelt, aber auch von anderen Frauen. Und Missstände seien offen anzusprechen. Das kann im Arbeitsalltag mitunter zu unangenehmen Situationen führen. Diem: "Lassen Sie Kritik an sich abperlen."
Quelle:
92. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Symposium "Gender-Aspekte in der Neurologie", 25.09.2019