Betrifft vor allem Afrika? Beim Thema Genitalverstümmelung ist das ein Irrglaube. Neue Schätzungen zeigen aus Sicht von Frauenrechtlerinnen wachsenden Handlungsbedarf auch in Deutschland.
Mädchen zu beschneiden, ist in vielen Regionen der Welt verbreitet. Auch in Deutschland fordert die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes (TDF) mehr Bewusstsein für Genitalverstümmelung. Die Zahl der vermutlich betroffenen oder bedrohten Mädchen und Frauen hierzulande steige seit Jahren kontinuierlich an, sagte TDF-Referentin Charlotte Weil am Donnerstag in Berlin. Grund sei der verstärkte Zuzug von Menschen aus Ländern wie Somalia und Eritrea, in denen diese schädliche Praxis verbreitet sei.
"Aktuell leben mindestens 70.000 betroffene Frauen hier in Deutschland", sagte Weil. Man gehe zudem von knapp 17.700 Minderjährigen hierzulande aus, die gefährdet sind - fast doppelt so viele wie noch vor drei Jahren. "Die Zahlen sind also alarmierend." Weniger bekannt dürfte sein, dass zu den größten Betroffenengruppen in Deutschland laut Statistik auch Frauen aus Indonesien zählen.
Mit der Dunkelzifferstatistik schätzt TDF seit 1998, wie groß das Problem ungefähr ist. Dabei wird die Prozentzahl der Betroffenen im Herkunftsland auf die Zahl hier lebender Frauen und Mädchen umgelegt. Berücksichtigt werde auch, wie lange eine Person schon in Deutschland lebe - die Erfahrung zeige, dass die Zahlen zurückgingen, je länger eine Familie hier sei, erklärt Weil.
Fälle von in Deutschland vorgenommener Genitalverstümmelung sind den Angaben zufolge bisher nicht bekannt geworden. Man habe aber gehört, dass es bei Reisen in die Heimat oder in andere EU-Länder wie Frankreich zu Beschneidungen komme, so Weil. Weibliche Genitalverstümmelung ist in Deutschland illegal und strafbar. Seit 2015 gilt das auch für Beschneidungen von Mädchen im Ausland.
"Beschneidungen von Mädchen, die in Deutschland geboren wurden und hier leben, können wir nicht ausschließen. Es gibt das", sagte Hermann Josef Kahl, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, im August. Eine Chirurgin, die betroffene Frauen behandelt, gab damals zu Protokoll, sie wisse, dass Genitalverstümmelung in Deutschland stattfinde. Solche Fälle würden jedoch nicht bekannt.
In ihrer Heimat werde Genitalverstümmelung so sehr tabuisiert, dass sie selbst lange nichts von der Häufigkeit gewusst habe, sagte die Frauenrechtsaktivistin Habiba Al-Hinai, die vor drei Jahren aus dem Oman flüchtete. Sie habe online darauf aufmerksam gemacht und sei stark angefeindet worden, auch von gebildeten Frauen. Nun engagiert sie sich in einem TDF-Projekt in Berlin: "Wenn wir es [Genitalverstümmelung] hier in Europa nicht stoppen können, wie wollen wir es im Rest der Welt stoppen?", fragt sie.
Terre des Femmes hält Aufklärung in den hier lebenden Communitys für den richtigen Weg. Nur mit Hilfe dieser Menschen könne ein Gesinnungswandel eingeleitet werden - entsprechende, von der EU geförderte Projekte gibt es schon. Zudem müsse das Thema hierzulande in der Aus- und Weiterbildung von ÄrztInnen, ErzieherInnen, LehrerInnen und anderen Berufen ein Bestandteil werden. Dies sei wichtig, um eine Gefährdung bei Mädchen zu erkennen, hieß es.
Weltweit leben laut Unicef 200 Millionen beschnittene Mädchen und Frauen. Die Praxis hat unter anderem in rund 30 Staaten in Afrika Tradition, aber auch in einigen Ländern des Nahen Ostens und Asiens. Die äußeren Geschlechtsorgane werden dabei teilweise oder ganz abgeschnitten - je nach Region unterscheidet sich die Schwere der Eingriffe stark. Viele Frauen haben lebenslang mit den körperlichen und psychischen Folgen zu kämpfen.