Die Wartezimmer sind meist proppenvoll, die Dankbarkeit der Patientinnen und Patienten groß. Aber Lust aufs klassische Hausarzt-Dasein haben viele Medizinerinnen und Mediziner nicht mehr. Ein komplexes Problem, für das es die eine Lösung nicht gibt. Nur eins ist klar: So wie früher wird es nicht mehr.
Jürgen Mailänder, parteiloser Bürgermeister von Hermaringen (Kreis Heidenheim), hat in seiner Amtszeit bisher alles versucht. Er hat einen Headhunter engagiert, er probierte es über Kontakte zum Klinikum, der Kreisärzteschaft und zu den Fachverbänden. Die kleine Gemeinde mit ihren 2.200 Menschen lockt mit einer Apotheke und einem nagelneuen, bald fertiggestellten Gesundheitszentrum, in dem die Stadt Praxisräume kaufen will. Sie wirbt mit Supermarkt, Metzger, Bäcker, Tankstelle, Sparkasse, Volksbank, Post, Senioren- und Pflegezentrum mit 84 Plätzen nebst stationiertem Rettungswagen. Sogar eine Tätigkeit als angestellte Ärztin oder als angestellter Arzt bei einer Praxis im Nachbarort ohne Risiko der Selbstständigkeit wäre möglich. Alles bisher vergeblich, seufzt Mailänder. Hermaringen ist seit 13 Jahren ohne Ärztin oder Arzt.
Erst drei oder vier Interessierte gab es bisher, aber daraus geworden ist nichts. Zuletzt hatte Mailänder im vergangenen Jahr einen jungen Arzt an der Angel - "Aber der bekam ein verlockenderes Angebot aus der Schweiz", sagt der Rathauschef. Und weg war der Arzt.
Hausarztmangel gibt es zwar überall im Land, verteilt sich regional aber sehr unterschiedlich: So manche Region ist über-, so manche unterversorgt. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) gibt es im Land rund 600 offene Hausarzt-Sitze (Stand Oktober 2019). Aber mit Zahlen ist das so eine Sache. Denn eigentlich hat das Land mehr als genug (Haus-) Ärztinnen und Ärzte für eine 100-Prozent-Versorgung. Nur dass halt nicht alle immer genau dort ihre Praxis haben, wo Bedarf wäre, sagt ein KV-Sprecher.
Am schwersten haben es dabei oftmals Regionen jenseits der Ballungsgebiete: Im Ostalbkreis, in manchen Schwarzwald-Regionen, im Landkreis Tuttlingen sind nicht wenige kleinere Orte ohne eigene ärztliche Versorgung. Viele suchen über Portale - so weist der Hausärzteverband aktuell 65 Inserate von Praxen aus, die Nachfolgende suchen. Zudem werben 22 Kommunen ihrerseits auf der Online-Hausarzt-Börse aktiv um Ärztinnen und Ärzte für ihre Stadt.
Das Sozialministerium listet für sein gerade aufgestocktes Landarzt-Förderprogramm aktuell 232 akute Förderregionen auf - also Gemeinden, in denen weniger als 75 Prozent der dort eigentlich benötigten ärztlichen Versorgung vorhanden ist. Laut dem Versorgungsbericht 2019 der KVBW gibt es in Baden-Württemberg knapp 7.100 Hausärztinnen und Hausärzte. Davon waren um die 36 Prozent, also gut 2.500, über 60 Jahre alt. Mehr als 1.300 davon waren älter als 65 Jahre. Auf zwei in Ruhestand gehende müssten rechnerisch drei neue folgen, um den Versorgungsumfang zu erhalten, heißt es aus dem Sozialministerium. Aber die Nachfolgesuche ist schwer. Der Allgemeinmediziner Konrad Zeeb aus Unlingen (Kreis Biberach) sucht seit Jahren, "kein interessierter Nachwuchs vorhanden", bescheidet er knapp. "Wer will außerdem noch auf einem Dorf wohnen?"
An solchen Problemen hätten Ärztinnen und Ärzte früher durchaus auch Mitschuld gehabt, erzählt der Allgemeinarzt Herwig Fichtl, der 1992 die Praxis seines Vaters in Langenenslingen (Kreis Biberach) übernahm. "Lange taten sie so, als ob alles nur Arbeit und schlechter Verdienst wäre, aber es geht uns allen ja gut." Die ersten zehn Jahre habe er zwar eine 80-Stunden Woche gehabt, es aber keine Sekunde bereut, hierher gekommen zu sein. "Die Menschen hier sind entspannter, kommen nicht gleich mit der Google-Diagnose an und man wird wertgeschätzt." Von den Kindern, die der 60-Jährige heute betreut, habe er schon die Eltern in der Praxis gehabt - "Das sind fast freundschaftliche Beziehungen."
Es sei aber auch kein Geheimnis, dass manche inzwischen eine Anstellung in einem Medizinischen Versorgungszentrum bevorzuge. "Da hat man dann nicht die ganze Bürokratie an der Backe." Wer nicht über persönliche Kontakte, sondern nur über offizielle Stellen nach Nachfolgenden suche, werde es auch in Zukunft schwer haben, prophezeit er. Es ist Geduldsache, sagt dazu der Hausärzteverband Baden-Württemberg. "Zwischen ein und drei Jahren dauert die Suche mindestens."
Und wenn das nicht klappt, wie das vor etwa vier Jahren dem Hausarzt in der Gemeinde Schlat (Kreis Göppingen) passierte, müssen die Menschen in die dadurch sehr vollen Praxen der Nachbargemeinden ausweichen erklärt Bürgermeisterin Gudrun Flogaus (parteilos). Sie ist gerade im Gespräch mit einem jungen Arzt, der sich vielleicht doch noch niederlässt in dem kleinen 1.700-Seelen-Ort. Oder es findet sich jemand, der sich im benachbarten Göppingen oder Eislingen im Gesundheitszentrum anstellen lässt und Schlat mitversorgt, hofft sie.
"Insgesamt haben wir eine Tendenz zur Konzentration" erklärt KVBW-Sprecher. "Das bedeutet weniger, aber größere Praxen." Nicht immer die schlechteste Lösung, sagt er, da dann zwar nicht unbedingt in jeder Gemeinde ärztliche Versorgung vor Ort ist, dafür aber längere Öffnungszeiten oder ein größeres Versorgungsangebot zur Verfügung stehen. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich die Zahl der Großpraxen im Südwesten auf rund 400 vervierfacht.
Die Landarztquote, die auch im Südwesten kommen soll, wird die Situation laut KVBW ganz klar nicht verbessern. Dabei sollen sich Studierende verpflichten, nach ihrem Examen in einer unterversorgten Region zu arbeiten. Doch abgesehen davon, dass das noch Jahre dauere, liege das Problem nicht in zu wenig Hausärztinnen und Hausärzten an sich, sondern in der sinkenden Arztzeit: Immer mehr arbeiten angestellt und in Teilzeit.
Die Lage wird sich verschärfen, sagt der Sprecher. Die Telemedizin, die der Landesverband als einziger bundesweit anbietet, könne da ein Anfang, aber keine Lösung sein. "Die Nachfrage steigt", sagt er. Aber die Praxis vor Ort sei damit nicht zu ersetzen.