Frauen sind besonders, auch in Zeiten von Corona. Im Expertininterview fordert Gendermedizin-Professorin Margarethe Hochleitner von der Medizin Uni Innsbruck mehr Aufmerksamkeit für die medizinischen Besonderheiten von Frauen, wie etwa die Anfälligkeit für Impfnebenwirkungen, Long-Covid und Prävention, sowie die Bedürfnisse und Belange von Migrant:innen und LGBTI-Personen.
Margarethe Hochleitner ist Professorin für Medizin und Diversität und leitet das Frauengesundheitszentrum an den Universitätskliniken sowie die Koordinationsstelle Gleichstellung, Frauenförderung und Diversität an der Medizinischen Universität Innsbruck. Die Kardiologin ist seit jeher Feministin und an Frauengesundheit interessiert. Seit mehr als 20 Jahren veranstaltet Prof. Hochleitner eine Ringvorlesung zu Gender Medizin mit wechselnden Schwerpunkten.
Prof. Hochleitner: Corona ist noch nicht ganz vorbei. Erstens ist zu sagen, dass schon vor Corona allgemein bekannt war, dass Frauen zwar einen besseren Infektionsschutz haben - sie erleiden bei Ansteckung weniger schwere Verläufe als Männer -, aber sie haben bei allen Medikamenten, auch Impfungen, mehr Nebenwirkungen, Unverträglichkeiten und Allergien. Frauen bis einschließlich in die Wechseljahre sind die Gruppe, die am ehesten betroffen ist. Mich wundert, dass man nicht auf die Idee gekommen ist, zu sagen: Bei dieser Gruppe nehmen wir ausschließlich die Präparate, die weniger Nebenwirkungen hervorrufen. Das wurde niemals diskutiert, obwohl das Thema eigentlich hätte bekannt sein müssen.
Prof. Hochleitner: Zweitens wissen wir auch, dass wesentlich mehr Long-Covid-Fälle bei Frauen auftreten. Wir brauchen deshalb auf sie zugeschnittene Anlaufstellen für Long-Covid. Reha-Zentren, in denen man über Wochen bleiben muss, sind von Frauen seit jeher wesentlich weniger akzeptiert als von Männern. Es sind auch viele junge Frauen mit Kindern betroffen. Die wollen nicht sechs Wochen in ein Reha-Zentrum gehen. Deshalb wäre zu überlegen, eher lokale Ambulanzen und tagesklinische Angebote zu schaffen.
Prof. Hochleitner: Wir haben sehr große Defizite in der Vereinbarkeit. Alle Umfragen zeigen, dass Männer, die vor Corona halbwegs partnerschaftlich in der Kinderversorgung und im Haushalt mitgetan haben, jetzt wesentlich weniger tun. Wegen Home-Schooling haben fast ausschließlich Frauen gekündigt, weil sie es nicht mehr geschafft haben. Wenn wir daran denken, dass nach Definition der WHO Gesundheit der höchst erreichbare Zustand von physischem, psychischem und sozialem Wohlbefinden und nicht das Fern sein von Krankheit und Behinderung ist, dann wäre mein Wunsch, dass man die Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr endlich in Schwung bringt – und zwar ganztags. Das würde die Gesundheit der Frauen verbessern.
Prof. Hochleitner: Es ist immer nur von Corona geredet worden. Man muss alle Krankheiten mitbedenken. Prävention muss weiter gefasst werden als bis zur Gesundenuntersuchung. Frauen sollten sich wieder an ihre bereits bekannten Risikofaktoren und behandlungswürdigen Zustände - z.B. Diabetes oder Bluthochdruck - erinnern, diese kontrollieren und möglicherweise die Medikamente adjustieren lassen. Diejenigen, die das vor COVID-19 machten, haben damit aus Angst vor Ansteckung in den Praxen und Krankenhäusern aufgehört.
Prof. Hochleitner: Da fallen mit vor allem Migranten und Migrantinnen sowie LGBTI-Personen ein. Diversity war in der Medizin schon in der Diskussion und ist jetzt durch die Covid-Beschäftigung wieder verschwunden. Bei Flüchtlingen haben wir ein enormes Defizit. Wir haben keine flächendeckenden Studien zum Gesundheitszustand in den Herkunftsländern. Selbst die WHO hat maximal Hochrechnungen. Dann kommt der oft jahrelange Fluchtweg dazu. In welchen Ländern waren sie, welche Infektionskrankheiten und Versorgungsprobleme hat es dort gegeben? Wenn wir evidenzbasierte Medizin, also Schulmedizin, machen wollen, müssen wir das wissen, aber wir haben keine Ahnung.
Prof. Hochleitner: Wir wissen beispielsweise, dass Transsexuelle hohe Dosen Hormone über sehr lange Zeit einnehmen müssen. Doch es gibt kaum Studien darüber, was diese Hormone auf Dauer machen. Testosteron ist in der Dauerbehandlung noch weniger untersucht als Östrogen und wahrscheinlich gefährlicher. Es kann auf den Blutdruck gehen und das müsste man untersuchen. Richtlinien wären wichtig: Mit welchem Medikament fange ich zum Beispiel bei einer Person in einem gewissen Alter an, die Testosteron nimmt und Bluthochdruck entwickelt? Diversity-Gruppen haben den Nachteil, dass sie klein sind, keine gute Lobby und keine besondere politische Unterstützung haben und, dass sie zum Teil tabuisiert sind. Das macht die Durchführung von Studien in der Form wie in der Medizin normalerweise Wissenschaft betrieben wird - mit großen quantitativen Untersuchungen - schwer. Man muss sehr viel mehr mitbedenken als Alter und Geschlecht.
Prof. Hochleitner: Ja. Die Lebenserwartung ist auch im 21. Jahrhundert bis 2020 jedes Jahr gestiegen, allerdings für Frauen in geringerem Ausmaß als für Männer. Der Fluch ist, dass Frauen diese Lebenserwartung um längeres Siechtum erkaufen müssen - was sie natürlich nicht wollen und die Gesellschaft auch nicht, weil das viel kostet und Pflegeprobleme aufwirft. Es sind die scheinbar nicht so dramatischen Leiden, die man rechtzeitig angehen muss. An Seh- und Hörstörungen, Knie- und Kreuzschmerzen oder Inkontinenz stirbt man nicht, aber damit landet man letztlich im Heim. Das kann man hintanhalten. Das ist eine Herausforderung an die Medizin. Denn alle wollen ein selbstbestimmtes Leben und das heißt für viele: Zuhause sein.
Prof. Hochleitner: In 30 Jahren Frauengesundheits- und Gender Medizin-Bewegung ist viel an Frauen geforscht worden. Bei der Medikamentenzulassung ist das schon relativ lang gesetzlich geregelt. In den einzelnen Fächern gibt es allerdings Unterschiede. In der Kardiologie und in den Neurowissenschaften gibt es schon sehr viel zu Frauen, in anderen Fächern haben wir so gut wie keine Forschung. Inzwischen wird das von der EU und der NIH (US-National Institute of Health) aber sehr gepusht. Sie verlangen, dass bei Drittmittelprojekten Genderaspekte eingearbeitet werden.
Auch der Wissenschaftsfonds FWF und sein deutsches Pendant DGF sowie Fachzeitschriften fangen langsam an, das einzufordern. Mühsam ist der Punkt, wie die Erkenntnisse der Gender Medizin an die Patientinnen und in die Allgemeinpraxen kommen sollen. Wir haben den Weg mit der Pflichtlehre und der Ärztefortbildung. Wir sind in der fh gesundheit und in der Pflegeschule. Das ist ein Weg. Aber es gibt noch einen großen Mangel bei den Behandlungsleitlinien. Diese werden von den Fachgesellschaften gemacht, die Privatvereine sind. Denen kann die EU nicht wirklich etwas vorschreiben. Es ist schon traurig, wenn in den Guidelines der Europäischen Herzgesellschaft ganz am Schluss unter dem Punkt Gender Issues steht, dass es sich nicht lohnt, getrennte Richtlinien für Frauen und Männer zu machen. Herzkrankheit ist die Haupttodesursache, mehr Frauen und Männer sterben jedes Jahr in der EU daran. Wenn es sich da nicht lohnt, wo dann?