esanum: Dr. Schulz, eine jüngst im Lancet Planetary Health veröffentlichte Studie weist auf, dass durch ansprechenden Klimaschutz in Deutschland jährlich über 150.000 frühzeitige Todesfälle verhindert werden könnten. Können Sie für uns die Ihrer Ansicht nach wichtigsten Erkenntnisse der Studie zusammenfassen?
Schulz: Diese Studie arbeitet mit Modellierungsmodellen: Wenn wir von Paris ausgehen und die Maßnahmen durchdeklinieren, die umgesetzt werden müssten, um die Klimaschutzziele zu erreichen, ergeben die Modellierungen, dass wir Todesfälle in der Größenordnung von 150.000 verhindern können. Wichtig ist: Es handelt sich dabei um eine Modellierungsstudie, das bedeutet, diese Berechnungen basieren auch auf einer gewissen Unsicherheit. Entscheidend ist dabei allerdings, dass das Potenzial von Klimaschutzmaßnahmen in einer quantitativen Weise dargestellt wird.
esanum: Bieten die Studienergebnisse auch konkret potenzielle Handlungsanlässe für Politikerinnen und Politiker?
Schulz: Selbstverständlich stellen die Ergebnisse eine weitere Aufforderung zum Handeln dar, aber auch ohne die Studie gibt es für die Politik bereits seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten erdrückende Evidenz, um tätig zu werden. Das Besondere an der neuen Studie ist, dass sie zeigt, dass bereits Maßnahmen in der Gegenwart mit einem Benefit für die Gesellschaft verknüpft sind – und zwar unmittelbar. Die Studie ist somit ein Beitrag, den Benefit von einer zeitlichen Latenz zu entkoppeln. Das ist eines der Probleme am Klimawandel: „Wieso soll ich Klimaschutzmaßnahmen machen, wenn wir erst in 10, 20, 50 und 100 Jahren Probleme haben?“ Das ist den Leuten schlechter vermittelbar. Die Probleme sind längst da.
esanum: Welche Krankheitsbilder werden durch den Klimawandel immer weiter in den Fokus der Gesellschaft gerückt?
Schulz: Wir haben, wenn man den Klimawandel direkt ins Feld führt, verschiedene Krankheiten, die mit ihm häufiger auftreten. Das sind beispielsweise Infektionskrankheiten. Ebenso haben wir in Deutschland hitzebedingt eine Übersterblichkeit, die zum Teil deutlich höher liegt als die durch Corona bedingte. Wir haben an der Stelle also vorzeitige Todesfälle. Wir haben außerdem eine höhere Inzidenz von dermatologischen und allergologischen Krankheiten, die wir jetzt schon sehen. Außerdem haben wir in anderen Teilen der Welt – das sollten wir als Ärzte grundsätzlich mit auf unserem Schirm haben – klimabedingt Todesfälle als Folge von extremen Wetterereignissen. So gab es in der Karibik im vergangenen Jahr mindestens 750 Todesfälle aufgrund der extremen, intensiven Hurricanes, also der Wirbelsturm-Saison.
esanum: Konnte die KLUG COVID-19- und Lockdown-bedingt im Jahr 2020 verglichen mit den Vorjahren Abweichungen hinsichtlich der Emission feststellen?
Schulz: Das Problem ist: Wir müssen mit den Emissionen auf null. Bei der Art, wie wir wirtschaften, haben wir ein Budget, das in der Form noch vielleicht für 7 bis 10 Jahre reicht, wenn wir uns an unsere Verpflichtungen aus dem völkerrechtlich verbindlichen Pariser Klimaschutzabkommen halten wollen. Wir sehen Pandemie-bedingt durch weniger Mobilität einen langsameren CO2-Anstieg in der Atmosphäre. Nichtsdestotrotz ist entscheidend, dass die CO2-Konzentration weiter angestiegen ist. Wir haben also einen messbaren Rückgang in den Emissionen, aber dennoch weiterhin einen deutlichen Anstieg statt Rückgang der CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre. Deswegen ist an dieser Stelle ein Effekt darstellbar, aber wir sind dennoch weit von einer Umkehr der grundsätzlichen Entwicklung entfernt.
esanum: Die KLUG setzt sich auch für Zero Emission Hospitals ein. Wie sehen emissionsfreie Krankenhäuser aus?
Schulz: Wir setzen uns gegen den Klimawandel und damit für die Gesundheit ein, weil wir wissen, dass Klimaschutz gleichbedeutend mit Gesundheitsschutz ist. Das bedeutet, dass wir uns in den Krankenhäusern dafür einsetzen, diese auf den Weg zu emissionsfreier Gesundheitsversorgung zu bringen, analog zum NHS – dem britischen National Health Service -, der schon seit Jahren auf diesem Weg ist. Dort haben Krankenhäuser ganze Abteilungen, die sich um nichts anderes außer Nachhaltigkeit kümmern.
Darüber hinaus ist es so, dass wir nicht nur einen CO2-Fußabdruck im Gesundheitssystem hinterlassen, sondern wir haben auch die Möglichkeit, eine wichtige Rolle in der Transformation zu spielen. Die Gesundheitsbranche ist ein Sektor, indem mit die meisten Menschen in Deutschland arbeiten. Deshalb und allein schon aufgrund des hohen gesellschaftlichen Ansehens, das Mitglieder oder Angehörige der Heilberufe in Deutschland haben, haben wir eine große Multiplikatorenwirkung.
In dem Moment, in dem wir Medizin machen, sind wir natürlich auch inhaltlich gefordert, uns auf die veränderten Rahmenbedingungen und die Folgen des Klimawandels vorzubereiten: Wir müssen uns in Form von Hitzeaktionsplänen vorbereiten, wir müssen die Resilienz der Strukturen stärken, um gegen extreme Wetterereignisse geschützt zu sein. Außerdem müssen wir uns auf ein verändertes infektiologisches Krankheitsgeschehen vorbereiten. Im Grunde muss jede Fachdisziplin für sich überlegen: „Was ist mein Anteil daran, den Klimawandel abzuschwächen?“ Hier gilt also „to avoid the unmanageable“. Zum anderen müssen wir uns überlegen, wie wir uns anpassen können an das, was auf uns zukommt. Das wird im Englischen mit „managing the unavoidable“ auf den Punkt gebracht.
esanum: Also haben Ärztinnen, Ärzte und alle Menschen im Gesundheitswesen eine nochmals erhöhte, besondere Verantwortung, Maßnahmen zur Abschwächung der Klimakrise zu ergreifen?
Schulz: Heilberufler haben nicht grundsätzlich eine größere Verantwortung, aber sie sind wahrscheinlich diejenigen, die schnell die Verknüpfung zwischen Klimaschutz und Gesundheitsschutz verstehen. Daher sind Menschen aus dieser Gruppe vermutlich auch am ehesten in der Lage, diese wichtige Verknüpfung als Narrativ in die Welt zu tragen.
esanum: Leider kommt es auch unter einigen Leuten der Wissenschaft und Medizin immer wieder zu der Behauptung, es gäbe keinen Klimawandel. Was ist Ihrer Ansicht nach der richtige Weg, um Fake News und falschen Behauptungen entgegenzutreten?
Schulz: Man muss sich immer überlegen, welche Bühne man diesen Behauptungen bieten will. Letztendlich sehen wir beim Klimawandel auch ein Muster, dass sich wiederholt. Ähnliche Diskussionen gab es schon im Bezug aufs Rauchen und die negativen Folgen des Rauchens. Aus der davon profitierenden Industrie sind Kampagnen lanciert worden, um die Konsensfindung, dass Rauchen schädlich ist, durch dubiose Studien und anschließende Behauptungen, es gäbe keinen wissenschaftlichen Konsens, zu untergraben. Durch solche Behauptungen ist die Meinungsbildung so beeinflusst worden, dass das Rauchverbot und das Werbeverbot viel später beschlossen wurden, als es eigentlich hätte sein müssen.
Beim Klimawandel erkennt man ähnliche Mechanismen, die von der Industrie der fossilen Energieträger eingesetzt werden. Exxon zum Beispiel weiß seit Jahrzehnten, dass die CO2-Emissionen die Klimakrise befeuern. Die haben sehr genau vorhergesehen, was auf uns zukommt, und haben mit Lobbyarbeit diese Diskussion immer wieder verzögert und bewusst dagegen gearbeitet, um ihr Geschäftsmodell weiter zu unterstützen. Deshalb glaube ich, dass wir an der Stelle viel mehr Aufklärung leisten müssten, welch negativer Einfluss durch Lobbyarbeit jener Industrien erreicht wurde, die jetzt aufgrund des Klimawandels zunehmend ihr Geschäftsmodell verlieren.