Ärztliche Fortbildung in Corona-Zeiten – wie geht es weiter? Ist die Zukunft auch hier digital? esanum fragt David Friedrich-Schmidt, Leiter Projekte & Administration der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, verantwortlich für die DGN-Kongresse.
esanum: Als wir das Interview verabredet haben, wollte ich Sie fragen: Sind große Fachkongresse noch zeitgemäß in der derzeitigen rasanten Entwicklung der Medizin? Jetzt stellt sich die Frage in Anbetracht von Corona etwas anders: Wie erleben Sie die Auswirkungen auf den Fortbildungsmarkt?
Friedrich-Schmidt: Für mich scheint Corona etwas, womit wir uns das ganze Jahr werden auseinandersetzen müssen, eventuell auch das nächste Jahr, aber es ist für die Kongress-Branche ein temporäres und vor allen Dingen lösbares Problem. Dennoch sind alle, die Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen organisieren, vor neue Herausforderungen gestellt. Für diese Phase, in der physische Treffen sich verbieten, müssen wir Alternativen entwickeln. Die gibt es auch schon und sie sind gut. Ich beobachte gerade sehr neugierig die Aktivitäten unseres Technikpartners „M Events“, die gerade für europäische Kongresse, die abgesagt werden mussten, virtuelle Konzepte für 15.000 Teilnehmer und mehr umsetzen.
esanum: Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Friedrich-Schmidt: Ich bin in der Beobachter-Rolle, aber ungefähr so: Der Referent sitzt zu Hause am Laptop mit Webcam und hält seinen Vortrag. Die Teilnehmer loggen sich ein, folgen dem Vortrag, sehen den Referenten und seine Präsentation. Auch Q & A, also gemeinsame Interaktionen, sind möglich. Auch die Integration von Industriepartnern gelingt. Das setzt unser Technikpartner für die aktuelle Notsituation bereits um. Spannend wird in Deutschland sein, wie die Ärztekammern im Hinblick auf die Vergabe von CME-Punkten für virtuelle Kongresse agieren. Ich gehe davon aus, dass auch sie sich hier sinnvolle Lösungen überlegen werden.
esanum: Wenn reihenweise Kongresse abgesagt oder verschoben werden, wie aktuell die der Pneumologen, der Kardiologen und der Internisten, werden Fortbildungsformate mehr und mehr ins Digitale verschoben – folgt daraus eine generelle Umstrukturierung: weg von Präsenzveranstaltungen?
Friedrich-Schmidt: Das glaube ich nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nach Corona den physischen Kongress weiterhin geben wird. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich Content digital konsumiere oder das live erlebe. Beim Austausch nach einer Veranstaltung vertieft man den Inhalt, indem man darüber auch redet. Das geht weit über Q & A hinaus. Also wenn Sie mich fragen, wird es den physischen Kongress immer geben.
esanum: Was macht Sie so sicher?
Friedrich-Schmidt: Das Motiv, einen Kongress zu besuchen, ist nicht vorrangig die Fortbildung. Unsere Teilnehmer sagen uns in Umfragen, was sie auf dem Kongress suchen: Leute treffen, Netzwerken und sich über die neuesten Trends in Wissenschaft und Forschung austauschen. Erst an dritter Stelle steht die CME-Fortbildung. Wissenschaftliche Neuigkeiten sind ja per se erst mal keine Fortbildung. Wenn sie beispielsweise hören, dass die Multiple Sklerose in fünf oder zehn Jahren viel effektiver behandelt werden kann als heute, dann ist das eine schöne Nachricht, aber keine Fortbildung, sondern der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Forschung. Einmal im Jahr Austausch und Networking mit Kollegen, darauf freuen sich die Kongressteilnehmer.
esanum: Komplette Digitalisierung in der Fortbildung ist demnach nicht Ihr Königsweg?
Friedrich-Schmidt: Es ist eine sehr sinnvolle Ergänzung zum physischen Kongress und wir sind beruhigt, dass es gute Lösungen und Möglichkeiten am Markt gibt, die wir teilweise schon nutzen. Ich wünsche mir, dass wir hier unser Angebot weiter kontinuierlich ausbauen. Ich glaube schon, dass online-basierte Fortbildungen ihre Daseinsberechtigung haben. Auch wir produzieren Online-Inhalte, die wir als E-Learning anbieten. Das wird auch von unseren Mitgliedern und Teilnehmern nachgefragt. Wir generieren diese Inhalte sinnvollerweise auf dem Kongress und diese sind dann das ganze Jahr über abrufbar. Und es gibt CME-Punkte dafür. Trotzdem wird es immer diese vier Tage im Jahr geben, an denen wir uns alle in Berlin treffen und uns persönlich austauschen. Seit wir Online-Angebote haben, gehen die Kongressbesucher-Zahlen sogar hoch. Die geäußerte Sorge vieler, die Zahlen würden bei Digitalisierung der Kongresse runter gehen, können wir nicht bestätigen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Neurologie wie keine andere Fachdisziplin wächst.
esanum: Was ist so reizvoll daran, tausenden Kollegen in einem Congress Center zu begegnen?
Friedrich-Schmidt: Ich mache derzeit wie alle meine Kollegen Homeoffice, und wir erleben, dass die Kommunikation über Skype, Webex oder Telefonkonferenzen einfach eine andere Qualität hat, als wenn man sich face-to-face trifft. Zwischenmenschlichkeit und Emotionalität ist online nur sehr bedingt transportierbar.
esanum: Die DGN hat sich zum Ziel gesetzt, der Pharmaindustrie einen klar definierten Raum auf ihren Kongressen zu geben. Sie brauchen aber zur Organisation auch Sponsoren - wie gelingt der Ballanceakt?
Friedrich-Schmidt: Die Neurologie ist ein pharmakologisch intensives Fach. Die meisten neurologischen Erkrankungen lassen sich nur mit pharmazeutischen Produkten behandeln. Wir sagen also nicht, dass wir die Industrie nicht dabeihaben wollen. Doch der Begriff Sponsoring gefällt mir hier nicht. Wir erbringen eine Dienstleitung für die Pharmafirmen, indem wir ihnen die Möglichkeit geben, sich in der Fachausstellung zu präsentieren, übrigens getrennt vom übrigen Kongressgeschehen. Wir stellen also Standflächen zur Verfügung und räumen das Recht ein, Industriesymposien zu veranstalten.
Wir wollen die Kooperation mit der Industrie, aber nach klar definierten Regeln, die wir übrigens gemeinsam mit der Industrie entwickelt haben. Auf unseren Kongressen werden die Teilnehmer nicht mit Pharmawerbung überhäuft, weder im Foyer, noch auf den Toiletten. Sie erhalten keine Flyer von als Tabletten verkleideten Hostessen in die Hand gedrückt. Bei uns gibt es eine leere Kongresstasche, die nicht schon mit Flyern gefüllt ist. Im Infoareal kann man sich das Hauptprogramm abholen und eine Flyerauswahl individuell zusammenstellen. Außerhalb der Fachausstellung endet der Präsenzbereich der Industrie.
esanum: Was sagen Sie zu der Sorge, dass Ärzte auf Fortbildungen im Sinne der Industrie beeinflusst werden?
Friedrich-Schmidt: Ich finde es übertrieben, wenn einige wenige Ärzte (u.a. MEZIS) ihren Kollegen die Fähigkeit absprechen, eine fundierte, unabhängige Bewertung vorzunehmen. Die Ärzte werden nicht gezwungen, die Fachausstellung zu besuchen, es gibt keine Kugelschreiber und kein umfangreiches Catering mehr. Die Ärzte treffen ihre Entscheidung selbst. Auch wenn sie in die Industriesymposien gehen, treffen sie auf kompetente Referenten. Dort kann keiner mehr ein Werbefeuerwerk abbrennen, die Zeiten sind auch dank interner Compliance-Regeln längst vorbei. Dass diese Symposien einen werblich-informativen Charakter haben, das weiß jeder, der sie besucht und sich die Vorträge anhört.
esanum: Sie gehen davon aus, dass der teilnehmende Arzt ein kritisches Denken hat?
Friedrich-Schmidt: Selbstverständlich! Ich finde es tatsächlich schwierig, Ärzten das Denken abzusprechen. Wir führen aktuell eine Echtzeit-Evaluation der Industriesymposien ein. Nach jedem Vortrag folgt eine Kurz-Evaluation, das haben wir in Abstimmung mit der Industrie und auf Initiative unserer industriekritischen Organisation "NeurologyFirst2 eingeführt. Die Teilnehmer werden gefragt: Wurden Interessenkonflikte und ihre Relevanz für das Thema offengelegt? Wurde die Datenlage umfassend und ausgewogen dargestellt? War eine Diskussion der Vor- und Nachteile neuer Therapieoptionen möglich? Am Ende sollen die Besucher die klinische Relevanz bewerten und ob ihre Erwartungen an den Vortrag erfüllt wurden.
esanum: Was wünschen Sie sich beim Umgang mit diesem Thema?
Friedrich-Schmidt: Das polemische, emotionale, wenig faktenbasierte Herangehen bringt niemand weiter. Da wurden von den industriekritischen Organisationen teilweise auch Äpfel mit Birnen verglichen. Würden deren Vertreter so an ihre wissenschaftlichen Arbeiten heran gehen, wäre das nach den geltenden Maßstäben einfach nicht redlich. Die Diskussion und der Austausch finden aber statt und es hat sich auch versachlicht. Das ist sehr wohltuend.
esanum: Anders gefragt: ohne Industrie geht es nicht?
Friedrich-Schmidt: Also zunächst einmal finanziert die Industrie in Deutschland überwiegend die Forschung. Man kann natürlich auch nach dem Staat rufen – der hat jedoch ausgabenseitig ganz andere Aufgaben zu bewältigen, denken wir nur an die aktuelle Krise, in der wir uns gerade befinden.
Es muss allerdings klare Regeln geben für die Zusammenarbeit von Fachgesellschaften und der Industrie. Oberste Maxime ist Transparenz. Wir müssen der Pharmaindustrie sagen, was wir nicht mehr auf unseren Kongressen wollen. Bei uns wird jeder Euro, den wir von der Industrie bekommen, veröffentlicht. Wir tauschen uns regelmäßig mit den medizinischen Direktoren der Unternehmen aus, wie die Industriesymposien inhaltlich noch besser ausgestaltet werden können. Wir machen ein gemeinsames Symposium "Universität trifft forschende Unternehmen", dort zeigt sich: Unternehmen teilen ihre Forschungsergebnisse - das läuft schon lange kooperativ im Sinne der translationalen Forschung ab. Wenn wir die Industrie nach klaren Regeln einbinden, ist das besser, als wenn die Industrie allein ihre Veranstaltungen macht und die Fachgesellschaft keine Möglichkeit hat, ein Korrektiv zu sein. Denn das ist unser Alleinstellungsmerkmal.
Wir binden auch die Kritiker ein. Mit "NeurologyFirst" sitzen wir zweimal im Jahr in einer Arbeitsgruppe zusammen und stimmen uns ab. Auch mit ihrer Hilfe haben wir gute Lösungen für alle Parteien entwickelt und unser Kongress ist dadurch erfrischend anders geworden.
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