Hier sprach vor allem der Kollege, nicht in erster Linie der Minister. Bei der Eröffnung des Ärztetages am Dienstag, den 24. Mai in Bremen stand an erster Stelle der Dank für das Engagement aller Ärzte, aber auch ihrer Selbstverwaltung bei den Bekämpfung der Corona-Pandemie und seit drei Monaten für die Bereitschaft zu humanitären Einsätzen in der Ukraine und ihren Grenzregionen. Fast 2000 deutsche Ärzte haben sich inzwischen bei der Bundesärztekammer registriert und stehen für medizinische Hilfseinsätze in der Ukraine auf Abruf zur Verfügung. Mit scharfen Worten verurteilte der Minister den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg: "Bombardements auf Kinderkliniken sind eine Barbarei, die keinen Platz in einer zivilisierten Gesellschaft hat."
Einen breiten Raum in der Rede nahm die Pandemie und ihre Bewältigung ein. Lauterbach: "Wir haben nicht alles richtig gemacht – aber wir sind als alte, multimorbide Gesellschaft vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Wer dies bezweifelt, attackiert zu Unrecht das Engagement von Ärzten in Kliniken, Praxen, Impfzentren und im Öffentlichen Gesundheitsdienst." Ärzte in den Praxen hätten eine außergewöhnliche Kommunikationsleistung vor allem auch bei der Bekämpfung von Fake News erbracht. Ausdrücklich dankte er den ärztlichen Organisationen, ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz auf dem Fundament der evidenzbasierten Medizin in den Kontroversen um die Pandemiebekämpfung eingesetzt zu haben.
Für den Herbst erwartet Lauterbach wieder steigende Infektionszahlen mit beschleunigt auftretenden neuen Varianten. In Vorbereitung seien derzeit neue Impf- und Teststrategien, die Entwicklung weiterer antiviraler Medikamente und die Anpassung des zum 23. September auslaufenden Infektionsschutzgesetzes. Dazu sei die verlässliche Unterstützung von Bundesärztekammer und KBV erforderlich.
Große Sorgen bereite Longcovid, weil es hierzu noch zu wenig gesichertes Wissen gebe, aber auch viele junge Menschen betroffen seien, die mit Langzeitkomplikationen und Folgekrankheiten wie Parkinson oder Herzerkrankungen rechnen müssten.
Im Rahmen der deutschen G7-Präsidentschaft engagiere sich Deutschland insbesondere beim Pact for Pandemic Preparedness mit dem Ziel, für zukünftige Pandemien innerhalb von 100 Tagen Tests, Impfstoffe und Public-Health-Instrumente zu entwickeln. Das erfordere auch die Qualifikation von Fachpersonal, wobei die Bundesärztekammer wichtige Unterstützung leisten könne. Die gute Nachricht angesichts der Pandemie sei: "Die Bedeutung von Gesundheit ist ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Aber es brauchte die Katastrophe, um zu diesem Prozess zu gelangen", sagte Lauterbach.
Erste Fortschritte sieht der Minister bei der Umsetzung des Pakts für den Öffentlichen Gesundheitsdienst: Bis Ende 2021 seien die Gesundheitsämter mit 1500 zusätzlichen Ärzten besetzt worden. Ausdrücklich sprach sich Lauterbach für eine Anpassung des Tarifvertrags an die Bedingungen aus, wie sie für Ärzte in den Kliniken gelten. Notwendig sei die akademische Aufwertung des ÖGD an den Universitäten. Dazu geplant sei ein deutsches Zentrum für öffentliche Gesundheit mit eigenen Professuren; neben der Aus- und Weiterbildung soll dieses Zentrum auch die Erarbeitung von Leitlinien übernehmen.
Als großes Reformprojekt dieser Legislaturperiode gilt die Reform der Krankenhausstrukturen und –vergütungen. Dies werde gründlich vorbereitet, versicherte Lauterbach. Geplant seien eine stärker am Selbstkostendeckungsprinzip orientierte Vergütung für Pädiatrie und Geburtshilfe, "einen großen Wurf" für die Neuordnung der Notfallversorgung gemeinsam durch Kliniken und Vertragsärzte, die Entwicklung von Hybrid-DRGs für Leistungen, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden können, eine Sockelfinanzierung für die Sicherstellung und eine Personalbedarfsbemessung in der Pflege, um deren Belastung zu entschärfen.
Der Kritik an der Besetzung des Expertenrats für die Klinikreform hielt Lauterbach entgegen, man dürfe Wissenschaftler nicht gegen Praktiker ausspielen. Er sagte zu, in einem zweiten Schritt, die medizinische Praxis die Beratungen für die Reform einzubeziehen.
Mit Blick auf den Nachwuchsmangel - aus Lauterbachs Sicht ein Langfristthema – sprach er sich für eine Aufstockung der Studienkapazitäten in Humanmedizin aus. "Es ist ein großer Fehler der Länder, sich dabei nicht engagieren. Denn es ist unethisch, Ärzte aus anderen, ärmeren Ländern nach Deutschland zu holen."
Als erfreulich bewertet Lauterbach die Entwicklung in der Allgemeinmedizin, dies sei auch dem Hausärzteverband zu danken. Der Hausarztberuf müsse aber noch attraktiver gemacht werden. Ein entscheidender Aspekt sei dabei die Entbürokratisierung.
Ernst machen will Lauterbach mit einer Neuausrichtung der Digitalisierungsstrategie. Die Praxis der gematik war bereits am Montag auf der KBV-Vertreterversammlung scharf kritisiert worden. In den Vordergrund sollen nun diese Kriterien rücken: Digitalisierung muss die Qualität der Versorgung verbessern; der Nutzen für Patienten und Ärzte muss sofort spürbar sein; es müssen medizinisch Ziele sei, die die Digitalisierungsstrategie vorwärts bringen.
Die hatte zuvor der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, ganz an das Ende seiner Eröffnungsrede gestellt. Mit einer Überraschung: an den Kollegen Lauterbach überreichte er das erste gedruckte Exemplar des komplett modernisierten Leistungsverzeichnisses, bei dem aber noch ein Teil der Bepreisungen fehlt. Die Reaktion des Ministers: mit süß-saurem Schmunzeln wog er das augenscheinlich kiloschwere Werk , wiegte bedenklich den Kopf und meinte: "Ob das ein Beitrag zur Entbürokratisierung ist? Aber: Ich werde es vorurteilsfrei prüfen, auch mit Blick darauf, dass das Verhältnis von GKV und PKV dadurch nicht tangiert wird."