esanum: Der “Halb-Gott in Weiß” hat abgedankt, der Arzt wird immer öfter als reiner Dienstleister gesehen. Die Medien betreiben gern “Ärzte-Bashing”. Fühlen Sie sich eigentlich von der Gesellschaft gerecht gesehen?
Grave: Im Spiegel meiner Patienten nehme ich mich durchaus anders wahr als die Ärzteschaft in den Medien dargestellt wird.
esanum: Besser?
Grave: Anerkannt und geschätzt.
esanum: Gesundheitspolitik wirkt ermüdend wie eine Dauerschleife – die Gesellschaft überaltert, ohne dass es dafür ein Versorgungskonzept gibt, die Politik beschneidet die Möglichkeiten für selbständige Mediziner an allen Ecken und Enden, die Ärztevertretung greift die alltäglichen Probleme der Ärzteschaft kaum mehr auf. Haben Sie eine kreative Idee zur Lösung der Probleme, auf die noch niemand gekommen ist?
Grave: Ich bin dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. So schlecht sind wir doch gar nicht. Wenn wir Ärzte etwas zu bemängeln haben, zum Beispiel an der Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen, dann ist es an uns, das zu ändern. Es ist sicher nicht einzusehen, dass man in der Kieferorthopäde wesentlich mehr verdient als an anderen Stellen, das ist eben das Ergebnis von Lobbyarbeit. Wenn wir Ärzte uns das gefallen lassen, sind wir selbst schuld. Wir sollten nicht nur auf die Politik warten.
esanum: Welche Wirkungen erwarten Sie vom neuen Versorgungsstärkungsgesetz? Glauben Sie, dass man so das Ziel erreichen kann, die Versorgung in ländlichen Gebieten zu stärken?
Grave: Mit Politik ist auch da nichts zu reißen. Das Problem einer Landarztpraxis ist doch das Land. Die Jungen ziehen weg, die Alten werden bald auch immer weniger. Eine Praxis in einem solchen Umfeld hat doch für einen jungen Arzt gar keine Perspektive. Da müssen sich die Kommunen Gedanken machen und Idee entwickeln, wie sie da einen Arzt hinkriegen. Ich sitze im Speckgürtel Berlins. In unserem Ort hat sich die Bevölkerung in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. Hier werde ich später ganz gewiss einen Nachfolger finden.
esanum: Was halten Sie vom Modell “Selbstzahler”, bei dem derjenige Patient schneller einen Termin erhält, der cash zahlt?
Grave: Unmoralisch! Durchgefallen! Wer das macht, dem gehört die Kassenärztliche Zulassung entzogen. Damit will ich nichts zu tun haben.
esanum: Welchen Anteil haben bürokratische Prozesse an Ihrer Arbeit? Oder anders: hätten Sie gern mehr Zeit für Ihre Patienten?
Grave: Mehr Zeit will jeder. Aber was ist eigentlich Bürokratie? Ich ärgere mich über jedes überflüssige Formular, das ich ausfüllen soll. Zum Beispiel hat jede Kasse ihr eigenes Formular, wenn ein Patient länger als sechs Wochen krank ist. Das müsste standardisiert sein. Aber insgesamt hält es sich der Papierkram in Grenzen.
esanum: Stichwort Papierkram – bis 2016 sollen E-Briefe in ganz Brandenburg durchgesetzt sein. Ein guter Schritt?
Grave: Es ist eine Schande, dass das jetzt erst kommt! Vergleichbar mit dem Desaster beim Flughafenbau. Wir könnten doch längst alle unsere Infos in den elektronischen Briefkasten werfen und per Datenfernübertragung abrufen, so wie wir das mit Laborergebnissen tun. Wenn die Sicherheit ein Problem ist, frage ich: warum können das die Banken – und wir nicht?
esanum: Ihnen stehen feste Budgets pro Patient zu: fühlen Sie sich von Ihrer Ärztekammer bei den Verhandlungen dazu gut vertreten?
Grave: Über einzelne Summen lässt sich streiten. Und es gibt sicher größere Einkommensunterschiede zwischen den Ärzten, die nicht plausibel sind. Aber ich weiß nicht, ob es viel ist oder wenig, was ich verdiene. Man kann davon leben. Das genügt.
esanum: Wie hat sich Ihre persönliche Arbeit in den letzten fünf Jahren verändert?
Grave: Ich spüre, dass aggressive Regresse nachlassen. Es gibt mehr Gelassenheit bei den Krankenkassen. Das entspannt auch meine Arbeit.
esanum: Wenn Sie könnten, was würden Sie morgen an den Rahmenbedingungen für sich und Ihre Kollegen ändern?
Grave: Ich würde als erstes das Abrechnungssystem überschaubar, transparent und plausibel machen. Der Aufwand, den man treiben muss, um das wirklich alles zu verstehen, ist so groß – das lenkt von der Arbeit ab. Ich kann zu keinem Zeitpunkt sagen, wie viel ich verdient habe. Und bekomme die Abrechnung vier Monate nach Quartalsende. Im Zeitalter der EDV ist das einfach unglaublich. Zweitens würde ich mich um den Exodus der jungen Ärzte kümmern. Das heißt, ich würde die Bedingungen für die Klinikärzte humaner gestalten. Früher ging ein Arzt nach der Klinik in die eigene Praxis – so wie ich das getan habe. Heute geht er ins Ausland. Die fehlen uns dann in der ambulanten Versorgung.
esanum: Wie beurteilen Sie die medizinische Versorgung? Hätten Sie eher Vertrauen oder große Sorge, wenn Sie sich in der Rolle des Patienten wiederfänden?
Grave: Wenn ich etwas wirklich Schlimmes hätte, möchte ich gern Patient in Deutschland sein. Ich habe zum Beispiel eine 104jährige Patientin, die hat mit 100 eine neue Hüfte bekommen, es geht ihr prächtig. Das System läuft auf einem wirklich hohen Niveau.
esanum: Wäre eine staatlich reglementierte Bedarfsplanung eine Lösung für Engpässe im Gesundheitssystem? Was halten Sie von der These, dass die aktuellen politischen Entwicklungen im Gesundheitsbereich ein Versuch sind, den bisher weitgehend selbständigen Arztberuf in eine Staatsmedizin zu überführen? Die ist ja immerhin viel besser plan- und kontrollierbar.
Grave: Planen kann man ja viel, vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen stimmen. Aber so läuft das nicht. Wenn es einen Bedarf gibt, folgt das Angebot.
esanum: Der Arzt als Unternehmer – sind die beiden Rollen für Sie gut zu vereinbaren?
Grave: Das ist Quatsch, der Arzt ist kein Unternehmer. Er ist ein besserer Abgestellter der Krankenkassen, er kann nicht mal Preis und Umfang seiner Leistungen selbst bestimmen. Die Seehofer-Erfindung der IGEL-Leistungen lehne ich in dem Zusammenhang strikt ab. Kein Arzt sollte es nötig haben, Leistungen anzubieten, die die Kassen nicht bezahlen. Wenn es eine leistungsgerechte Entlohnung aller Arzt-Disziplinen gäbe, wären IGL-Angebote völlig überflüssig. Und das würde übrigens auch das Vertrauen der Patienten in uns Ärzte wieder stärken.
esanum: Wenn Sie an Ihre Berufswahl zurückdenken – würden Sie noch einmal Medizin studieren?
Grave: Warum nicht? Ich würde den Beruf sogar meinem Sohn vorschlagen.
esanum: Der Arzt als Familienmensch – würden Sie einen Arzt/Ärztin heiraten?
Grave: Na klar, da gibt es dann immer genug Austausch. Die Familienarbeit können auch zwei Ärzte sich gut teilen.
Das Gespräch führte Vera Sandberg.
Vera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.