esanum: Herr Prof. Spanagel, was macht Sie so sicher, dass Medikamente den Alkoholkranken helfen können?
Prof. Dr. Rainer Spanagel
Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Psychopharmakologie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.
Spanagel: 60 bis 70 Prozent der Alkoholkranken sind nach drei Monaten Therapie im geschützten Raum wieder rückfällig. Das ist ganz logisch, denn es ist ein Riesenunterschied, ob jemand in einer Klinik oder Reha-Einrichtungen abstinent sein kann, also unter idealen Bedingungen oder zu Hause in seinem gewohnten Umfeld den Gefahren des Alltags ausgesetzt ist. Das häusliche Umfeld ist bei vielen Erkrankten ja alles andere als ideal. Hier könnten Medikamente sehr gut unterstützend eingreifen. Die Medikation ist eine echte Hilfe, unabhängig von der Umgebung – natürlich immer im Verbund mit anderen psychotherapeutischen Maßnahmen.
esanum: Das würde die hohe Zahl der Rückfälle vermindern?
Spanagel: Ja, davon bin ich überzeugt. Es ist aber auch viel gewonnen, wenn es hilft, die Trinkmengen zu reduzieren. Nachgewiesen ist, dass durch eine Reduktion von nur einem Viertel der Alkoholtrinkmenge die geschädigten Organe beginnen, sich zu erholen, ihre Funktion wieder herzustellen. Wer nur auf Abstinenz setzt, baut eine viel zu hohe Hürde auf, die viele nicht dauerhaft nehmen können.
esanum: Therapieziel ist für Sie also Trinkmengenreduktion und nicht unbedingt Abstinenz.
Spanagel: Es ist zunächst das realistischere Ziel. Und es hilft gegen viele Alkoholfolgeerkrankungen, erhöht das Wohlbefinden der Patienten – und das ist bereits ein großer Erfolg.
esanum: Warum gibt es dann einen beinahe erbitterten Widerstand von Therapeuten-Kollegen gegen die Medikation bei Alkohol-Abhängigen?
Spanagel: Der Widerstand kommt von Menschen, die ihre Pfründe und ihre Gewohnheiten verteidigen. Sie wollen gern so weitermachen wie seit Jahrzehnten, möchten ihr Lebenswerk nicht anzweifeln und ihre Patientenklientel nicht verringert sehen. Das betrifft Selbsthilfegruppen, Therapeuten, Suchtkliniken, die seit Jahrzehnten auf diese Patientengruppe spezialisiert sind und die gern so weiter machen wollen wie gewohnt.
esanum: Ein schwerer Vorwurf, wenn man daran denkt, dass vielleicht vielen Patienten eine mögliche Hilfe vorenthalten wird.
Spanagel: Ich bleibe dabei, die Ablehnung von Medikation bei Alkoholabhängigen, besonders aus der Hauptgeschäftsstelle für Suchtgefahren, ist ideologisch und nicht wissenschaftlich begründet.
esanum: Wie gut ist die Wirksamkeit der Medikamente?
Spanagel: Der Effekt von Nalmefene wurde 2013 in einer klinischen Studie gezeigt. Es gab 12 Prozent mehr Wirksamkeit gegenüber Placebos. Ich bin allerdings überzeugt, dass es am idealen Setting in der Klinik lag, dass der Placebo-Effekt so hoch war. Zu Hause unter realistischen Umständen sieht das ganz anders aus, da kann ein Placebo kaum wirken – und das konnten wir noch nicht wissenschaftlich erforschen, dafür fehlen die Unterstützung und das Geld.
esanum: Und was ist nachweislich erreichbar durch die Medikamente?
Spanagel: Wenn 1000 Alkohol-Abhängige zunächst traditionell behandelt werden, kommt es danach bei ca. 700 zu einen Rückfall. Unter diesen können wir bei ca. 30 Prozent mit Medikamenten eine wirksame und hilfreiche Trinkmengenreduktion erreichen.
esanum: Und wie sind die Nebenwirkungen?
Spanagel: Es kann zum Beispiel bei dem Medikament Selincro, welches zugelassen ist, um die Trinkmenge zu reduzieren, zu Übelkeit, Schwindelgefühl, Schlaflosigkeit und Kopfschmerz kommen. Das liegt aber auch daran, dass dieses Medikament bei Bedarf genommen wird. Bei routinemäßiger Einnahme könnte es zur Toleranzentwicklung für diese Nebenwirkungen kommen. Das wissen wir von vergleichbaren Mitteln.
esanum: Welche Argumente gegen Ihre Arbeit werden vorgebracht?
Spanagel: Außer den unerwünschten Nebenwirkungen gibt kein einziges evidenzbasiertes medizinisches Argument gegen die Medikamente. Mir und meinen Kollegen wird aber zum Beispiel Nähe zur Pharma-Forschung vorgeworfen. Das ist ein persönlicher Angriff. Was ist daran schlecht, mit der Pharma-Industrie zusammen zu arbeiten? Sie ist nunmal der Produzent und Geldgeber für neue Medikamente. Von unseren Gegnern wird demagogisch auf einen potenziellen Milliarden-Markt hingewiesen, den man mit den Medikamenten abgreifen wolle. Das ist unredlich. Es ist völlig normal und sinnvoll, wenn Forscher und Pharma-Firmen zusammen arbeiten, solange man Interessenkonflikte vermeidet.
esanum: Misstrauen gegen die Zusammenarbeit von Ärzten und Pharma-Industrie sind ja alles andere als neu. Können Sie den Vorwurf der Bestechlichkeit entkräften?
Spanagel: Natürlich. Es hat sich da sehr viel geändert. Vor 15 Jahren sind Ärzte noch auf Mittelmeerinseln eingeladen worden – samt der ganzen Familie. Heute bekommt man von Pharmafirmen zu Weihnachten eine Karte, wo zu einer Spende für einen guten Zweck aufgefordert wird. Ich kenne heute in meinem Umfeld kein einziges Beispiel der persönlichen Vorteilsnahme durch die Pharmaindustrie.
esanum: Wenn die Medikamente zugelassen sind, kann sie ja auch jeder Hausarzt verschreiben. Wo liegt das Problem, sie zu gewinnen?
Spanagel: Ärzte sind verunsichert, auch die Patienten sind beeinflusst. Solange diese Antihaltung von vielen Interessensgruppen demonstriert wird, werden sich die Hausärzte mit Verordnungen zurückhalten. Die Medikamente haben sich auf dem Markt bisher kaum etabliert und das bedeutet mittelfristig auch ihr Aus.
esanum: Wie machen Sie weiter? Hoffen Sie auf einen Sinneswandel der Verantwortlichen?
Spanagel: Da besteht leider in Deutschland wenig Hoffnung. Ich werde deshalb in absehbarer Zeit die Medikamentenentwicklung im Suchtbereich einstellen. Wenn der medikamentöse Ansatz nicht breit angenommen wird, können wir keine transnationale, angewandte klinische Forschung machen, das ist viel zu aufwändig und teuer und auch sehr frustrierend.
esanum: Ist die Lobby der Suchtkranken einfach zu schwach?
Spanagel: Das kann man so sagen. Suchtkranke stehen gesellschaftlich im Abseits, an ihnen klebt das Stigma des Versagens und der Selbstverschuldung. Selbst viele Psychiater wollen in Wahrheit keine Suchtkranken in ihrer Klinik behandeln. Die Welt der Suchtbehandlung müsste sich grundlegend wandeln. Und dazu ist derzeit kaum jemand bereit. Leidtragende sind die Patienten.
Vera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.
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