Arzneimittel haben oft unerwünschte Nebenwirkungen. Sie wirken nicht nur auf kranke, sondern auch auf gesunde Zellen. Forscherinnen und Forscher der Technischen Universität München (TUM) und der Königlichen Technischen Hochschule (KTH) in Stockholm haben nun eine stabile Nano-Verpackung für Medikamente entwickelt. Spezielle Mechanismen sorgen dafür, dass die Wirkstoffe nur in den erkrankten Zellen freigesetzt werden.
Der menschliche Körper besteht aus Milliarden von Zellen. Bei einer Krebserkrankung ist das Genom einiger dieser Zellen krankhaft verändert, sie teilen sich unkontrolliert. Auch bei Virusinfektionen befindet sich die Ursache der Erkrankung in den betroffenen Zellen. Mithilfe von Medikamenten wird etwa während einer Chemotherapie versucht, diese Zellen zu zerstören. Allerdings wirkt die Therapie auf den gesamten Körper. Auch gesunde Zellen werden geschädigt, und es kommt zu teils heftigen Nebenwirkungen.
Ein Forschungsteam um Prof. Oliver Lieleg, Professor für Biomechanik und Mitglied bei der Munich School of BioEngineering der TUM, und Prof. Thomas Crouzier von der KTH haben ein Transportsystem entwickelt, durch das der Wirkstoff nur innerhalb der betroffenen Zellen freigesetzt werden soll. „Die Wirkstoffträger werden zwar von allen Zellen aufgenommen“, erklärt Lieleg. „Aber die Fähigkeit, den Wirkstoff freizusetzen, sollen nur die erkrankten Zellen besitzen.“
Der Mechanismus in Tumor-Modellsystemen funktioniert aus Zellkulturen. Zunächst werden die Wirkstoffe verpackt. Die WissenschaftlerInnen nutzen dazu die Mucine. "Da Mucine im Körper vorkommen, können geöffnete Mucin-Partikel später von den Zellen abgebaut werden", sagt Lieleg.
Ein weiterer Bestandteil der Verpackung entsteht im Körper: die Desoxyribonukleinsäure (DNS), Trägerin unserer Erbinformation. Die Forschenden stellten DNS-Strukturen mit gewünschten Eigenschaften synthetisch her und hefteten sie chemisch an die Mucine. Wird der Lösung mit Mucin-DNS-Molekülen und dem Wirkstoff Glycerin zugesetzt, sinkt die Löslichkeit der Mucine, sie falten sich zusammen und schließen den Wirkstoff ein. Die DNS-Stränge binden sich aneinander und stabilisieren die Struktur, sodass sie sich nicht mehr von alleine auffalten kann.
Nur der richtige "Schlüssel" kann die DNS-stabilisierten Partikel wieder öffnen, sodass die eingekapselten Wirkstoffmoleküle auch freigesetzt werden. Dabei nutzen die Forschenden MikroRNS-Moleküle. Ribonukleinsäure ist vom Aufbau der DNS sehr ähnlich. Sie spielt eine große Rolle bei der Proteinsynthese im Körper, kann aber auch andere Zellprozesse regulieren.
"In Krebszellen sind MikroRNS-Stränge vorhanden, deren Aufbau uns genau bekannt ist“, erklärt Ceren Kimna, Erstautorin der Studie. “Um sie als Schlüssel zu nutzen, haben wir das Schloss entsprechend angepasst – durch sorgfältiges Design der synthetischen DNS-Stränge, die unsere Medikamententrägerpartikel stabilisieren.“ Die DNS-Stränge sind so aufgebaut, dass die MikroRNS-Moleküle daran binden können und dadurch die vorhandenen Bindungen, die die Struktur stabilisieren, auflösen. Die synthetischen DNS-Stränge in den Partikeln können auch an Mikro-RNS-Strukturen anderer Krankheiten wie Diabetes oder Hepatitis auftreten.
Die klinische Anwendung des neuen Mechanismus ist noch nicht erprobt. Bevor damit begonnen werden kann, müssen weitere Untersuchungen im Labor mit komplexeren Tumor-Modellsystemen gemacht werden. Auch sollen weitere Modifikationen dieses Mechanismus zur Wirkstofffreisetzung untersucht werden, um bestehende Krebstherapien zu verbessern.
Quelle:
Ceren Kimna, Theresa Monika Lutz, Hongji Yan, Jian Song, Thomas Crouzier, and Oliver Lieleg: DNA Strands Trigger the Intracellular Release of Drugs from Mucin-Based Nanocarriers, ACS Nano DOI: 10.1021/acsnano.0c04035