esanum: Auf der Veranstaltung “Brennpunkt Onkologie” der Deutschen Krebsgesellschaft wurde vor wenigen Wochen die Idee so genannter Translationaler Zentren in der Krebsforschung diskutiert. Worin besteht die Idee?
Bruns: Es geht um den Übergang von Ergebnissen medizinischer Forschung in die Versorgung. Wenn etwas neu erforscht wird, gibt es entsprechende Studien und Veröffentlichungen. Handelt es sich um eine vielversprechende medizinische Neuerung, dann wird sie auch zunehmend in der Krankenversorgung eingesetzt. Den Transfer vom Labor zum Krankenbett bezeichnet man auch als translationales Vorgehen.
Die Finanzierungssysteme in unserem Gesundheitswesen sind aber so ausgelegt, dass bei diesem Transfer nicht automatisch die Kosten der Leistungserbringer gedeckt sind. Unser DRG-System legt z.B. für jede teil- oder vollstationäre Leistung eines Krankenhauses einen Preis fest. Die Preis-Kalkulation für Innovationen in der Regelversorgung ist aber besonders schwierig. Denn sie werden zunächst nicht von allen, sondern nur von wenigen Häusern eingesetzt, was bei der Kalkulation zu einer unterpreisigen Bewertung führt. Man kann jedoch nicht warten, bis die Krankenhäuser, die eine Innovation anwenden wollen, genügend Geld auf dem Konto haben, um sich die Anwendung einer Innovation auch leisten zu können. Das DRG-System hält viel Unsinn aus dem System fern, aber es lässt auch manchen sinnvollen Innovationen keine Möglichkeit.
esanum: Was bedeutet das ganz praktisch?
Bruns: Gerade die molekulare Testung von Tumoren und die Sequenzierung der Tumor-DNA ist weltweit ein ganz wichtiges Thema. Amerika und Frankreich haben kräftig in den Aufbau einer Struktur investiert, die diese Leistungen erbringen kann. Bei uns wird diese Art der Diagnostik vielfach ohne angemessene Erstattung durchgeführt.
Krankenhäuser finanzieren diese Innovation oft trotzdem quer, weil sie wegweisend für die Therapieentscheidung sein kann. Aber die Lücken für eine Querfinanzierung sind mittlerweile ausgereizt. Manche Krankenhäuser ignorieren Innovationen deshalb auch einfach. Derzeit müsste eine Innovation erst einmal in allen geeigneten Krankenhäusern angewendet werden, damit man nach zwei, drei oder mehr Jahren einen angemessenen Preis dafür kalkulieren kann. Da geht wertvolle Zeit verloren. Für einen Lungenkrebspatienten im fortgeschrittenen Stadium kann das, statistisch gesehen, einen Unterschied zwischen einem Jahr und 35 Monaten Überleben ausmachen, je nachdem, ob er mit einer Chemotherapie behandelt wird, oder mit einem zielgerichteten Medikament, das auf der Basis einer umfassenden molekulardiagnostischen Untersuchung ausgewählt wurde.
esanum: Das soll nun anders werden?
Bruns: Die USA, die Schweiz und Skandinavien haben bereits ein solches System – Couverage with Evidence Development. Dort hat man sich quasi für eine Erstattung auf Probe entschieden. Das heißt, Innovationen an der Schwelle zur Regelversorgung werden eine Zeit lang erstattet, gleichzeitig evaluiert man ihren Einsatz in der Versorgung noch weiter. Nach Abschluss der Probezeit erfolgt die Entscheidung über die Aufnahme in die Regelversorgung bzw. die endgültige Preisfestsetzung auf der Basis der gewonnenen Daten. Das ist eine ideale Form, neue Dinge in ein System zu implementieren, weil man relativ schnell feststellen kann, ob die Einführung der Innovation eine richtige Entscheidung war. Wenn ja, dann kann sie auch relativ schnell flächendeckend eingesetzt werden.
Bei uns könnten das sogenannte Translationale Zentren leisten. Gemeint sind Zentren, an denen dieser Übergang aus der Forschung in die Regelversorgung stattfinden kann – ordentlich strukturiert und ausreichend finanziert. Dort muss gleichzeitig die Innovation im Versorgungsalltag untersucht werden. Die Zentren sollen herausfinden: Wie fügt sich die Innovation in die Versorgung ein?
esanum: Ein Beispiel bitte.
Bruns: In der Prostata-Chirurgie haben wir in den letzten Jahren einen Boom von Robotern erlebt. Die Ärzte, die Kliniken, die sich das leisten konnten, fanden die Roboter-assistierte Prostatachirurgie toll und haben sich Roboter angeschafft. Niemand weiß bis heute, ob die Patienten damit besser versorgt sind, weil vergleichende Studien fehlen. Jetzt kauft sich keiner mehr einen Roboter, weil die teurere Roboter-assistierte OP nicht entsprechend finanziert wurde – und dann ist so eine Innovation weg.
esanum: Wie viele Translationale Zentren stellen Sie sich vor?
Bruns: Es sollten flächendeckend etwa 20 Zentren sein. Sie sind gehalten, ihre Leistung niedergelassenen Ärzten sowie anderen Partnern anzubieten und dabei gleichzeitig Erkenntnisse aus der Anwendung zu generieren.
esanum: Wer soll das machen?
Bruns: Große Krankenhäuser, die sich mit dem Thema auskennen, Universitätskliniken, Häuser, die sich dafür gegebenenfalls bewerben und bereit sind für gewisse Qualitätssicherung. Dazu gehört nicht nur die Fähigkeit, diese Leistung anbieten zu können, sondern auch die Bereitschaft zur ausführlichen Dokumentation. In Köln gibt es bereits ein Beispiel: Die Lung Cancer Group am dortigen Universitätsklinikum hat die Expertise zur differenzierten Mutationsanalytik beim Lungenkrebs.
Das heißt, das Tumorgewebe wird auf alle molekularen Veränderungen untersucht, die bereits jetzt oder in Zukunft eine therapeutische Relevanz haben können. Diese Leistungen werden von den Kassen übernommen; die Kölner Gruppe arbeitet mittlerweile mit vielen Krankenhäuser und Facharztpraxen interdisziplinärer Fachrichtungen zusammen. Mit der flächendeckenden Etablierung solcher Zentren könnten alle Lungenkrebspatienten den Zugang zu dieser Diagnostik erhalten.
esanum: Wie aufgeschlossen sind die Kassen?
Bruns: AOK und Ersatzkassen sind sehr aufgeschlossen für solche Ideen. Wenn wir diese Zentren bundesweit haben wollen, dann sollten alle Kostenträger dabei sein. Und es sollten die Besten für ein solches Verfahren identifiziert werden. Bei den Leistungserbringern muss man also selektiv vorgehen und bei den Kostenträgern einheitlich und gemeinsam. Noch gibt es dafür keine Rechtsform in Deutschland.
esanum: Wer sitzt derzeit beisammen und arbeitet am Konzept?
Bruns: Es gibt eine Arbeitsgruppe mit Kollegen aus dem niedergelassenen und dem Klinikbereich, auch aus Universitätskliniken. Hinzu kommen Patientenvertreter, Experten aus den klinischen Krebsregistern, sowie aus dem Gemeinsamen Bundessausschuss und nicht zuletzt auch Politiker.
esanum: Welche Rolle kommt der Politik zu?
Bruns: Das Problem lässt sich ohne eine Änderung der Gesetzgebung in Deutschland nicht lösen können. Es wird ganz sicher in den Koalitionsvertrag der nächsten Regierung einfließen – und vorher wohl auch in den Wahlkampf. Wir haben sowohl die Regierungsparteien als auch die Grünen und die Linke angesprochen und einbezogen. Sie sehen auch, dass ein strukturiertes Einführen von neuen Leistungen in die Versorgung mehr Sinn macht als ein unstrukturiertes Vorgehen.
Das Gespräch führte Vera Sandberg.
Vera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.