Max Nonne, Otfrid Foerster und Max Pette – ob und wie die bekannten Neurologen in die nationalsozialistische Ideologie verstrickt waren, das stellten Prof. Dr. Axel Karenberg, Köln, und Prof. Dr. Heiner Fangerau, Düsseldorf, auf der Neurowoche in Berlin vor. Die Sitzung ist seit 2016 in Folge die dritte, die sich mit der Aufarbeitung der Neurologie im Nationalsozialismus beschäftigt. Es gehe aber nicht nur um die Aufarbeitung selbst, betonte Prof. Dr. Martin Grond, "Sie soll uns auch zeigen, dass Ethik immer im Mittelpunkt unseres Handelns steht", erklärte Grond.
Lange Zeit galt Max Nonne (1861-1959), der 1933 im Rahmen der NS-"Verjüngung des Lehrkörpers" emeritiert wurde, als "untadeliger Arzt". Wissenschaftliche Schwerpunkte von Nonne waren u.a. die Bedeutung des Liquors für die neurologische Diagnostik, die Kleinhirnataxie, die Kriegsneurose und Hypnose oder die Syphilis des Nervensystems. Nonne galt als Pionier der autonomen Neurologie. Schatten auf das Bild des untadeligen Arztes wirft aber seine Haltung zur Euthanasie, so Karenberg.
Es gibt drei zentrale historische Dokumente, aus denen sich dazu Schlüsse ziehen lassen: Nonnes Denkschrift für Senator Ofterdinger (1941/42), Nonnes Gutachten für das Landgericht Hamburg im Rahmen des ersten "Kindereuthanasie"-Prozesses (1946) und seine Stellungnahme zu den Kindertötungen und dem Gutachtenverfahren (1949).
Ofterdinger galt als treibende Kraft der Kindereuthanasie. In seiner Denkschrift nimmt Nonne zu "terminal Erkrankten" Stellung. Er schreibt dazu, dass es sich bei der Tötung um eine "Verdrängung der schmerzhaften Todesursache durch eine schmerzlose" handele. Nonne betont aber, dass eine solche nicht dem Wollen des Erkrankten zuwiderlaufen dürfe. Er schlug eine Kommission aus drei Ärzten zur Abwägung der aktiven Sterbehilfe vor.
In der Denkschrift äußert er sich aber auch eindeutig zu Menschen, die er als "nicht einwiligungsfähig" bezeichnet: "Handelt es sich in dem bisher Gesagten nur um Euthanasie, so handelt es sich in einer weiteren Kategorie um etwas ganz Anderes. Diese zweite Gruppe besteht aus unheilbaren Geisteskranken – einerlei ob sie so geboren, oder wie viele Paralytiker oder Schizophrene im letzten Stadium ihres Leidens oder senil Demente, Atheriosklerotiker oder jugendlich Verblödete sind."
Nonne bezog sich auf die Aktion T4 und hob hervor, eine Tötung müsse sorgfältig geprüft werden (nicht nach Aktenlage). Karenberg erinnert aber daran, dass Tötungen bei T4 und der Kindereuthanasie immer nach Aktenlage erfolgten. Allein in Hamburg wurden im Rahmen der Kindereuthanasie 67 Kinder getötet.
Auch in seiner Stellungnahme 1949 ist Nonne deutlich. So beantwortet er die Frage "Halten Sie die Vernichtung unwerten Lebens mit dem Berufsethos der Ärzteschaft eines Kulturvolkes vereinbar, insbesondere bei dem Stand der Wissenschaft 1937-1945" mit "Ja", Es sei auch vereinbar mit der medizinischen Wissenschaft und dem ärztlichen Berufsethos, unheilbar missgebildete idiotische Kinder der Anstaltstötung zuzuführen, schreibt er.
Bausteine seines sozialdarwinistischen Menschenbildes habe Nonne aber bereits 1922 im Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918 offenbart. Er schreibt: "Der alte Jammer hat uns ja täglich gepackt, dass der Krieg DARWINsche Zuchtwahl in umgekehrtem Sinne mit großem Erfolg betrieb. Die Besten wurden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlichen werden sorgfältig konserviert, anstatt dass bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zersetzenden Parasiten verklärt hätte." 1933 tritt er dem Reichskolonialbund bei, 1941 verleiht ihm Hitler die Goethe-Medaille. Nonne, so Karenbergs Fazit, habe sich mit dem NS arrangiert
Otfrid Foerster (1873 bis 1941) wurde 1909 Professor in Breslau, erhielt 1921 die Professur für Neurologie und baute 1934 das Neurologische Forschungsinstitut Breslau auf. Ab 1935 war der Mitherausgeber des "Handbuchs der Neurologie", 1938 wurde er emeritiert.
Von 1924 bis 1932 war Foerster der Vorsitzender der Gesellschaft deutscher Nervenärzte (GDN) und 1933 bis 1941 Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Foerster sprach mehrere Fremdsprachen, er war ein begehrter Redner auf internationalen Kongressen. Lenin zählte zu seinen Patienten. Er war Ehrenmitglied der American Neurological Association und der Royal Society of Medicine in London. Gleichwohl war er, so Fangerau, eine "ambivalente Persönlichkeit".
Foerster war weder Mitglied in der NSdAP, noch in anderen relevanten NS-Organisationen engagiert. Er betrieb auch keine "NS-relevante" Forschung. Er war auch nicht in den sogenannten Euthanasie-Komplex (ab Herbst 1939) involviert. Er galt als nicht repräsentabel für das System; seine Frau war Jüdin, er galt deshalb als "jüdisch versippt". Durch sein hohes Alter und sein internationales Ansehen wurde er vor Repressalien geschützt.
Auf der anderen Seite schwieg er zur NS-Politik, obwohl er durchaus informiert war. Er setzte sich auch nicht für bedrohte Kollegen, wie z.B. seinen jüdischen Assistenten Guttmann ein, der 1938 fliehen musste und er äußerte sich affirmativ zum NS-Staat.
Bei Heinrich Pette (1887 bis 1964) besteht eine Diskrepanz zwischen prominenter Rolle und klarer NS-Belastung. Von 1935 bis 1949 war Pette Zweiter Vorsitzender der DGN-Vorgängerorganisation GDNP, 1953 Vorsitzender der DGN und 1955 Vorsitzender der DGIM. Er war Ehrenvorsitzender der DGN von 1957 bis 1964. 1957 erhielt Pette das Bundesverdienstkreuz, 1969 wurde der Heinrich-Pette-Preis eingeführt.
Anfang der 1930er Jahre ist Pette ein anerkannter Forscher auf den Gebieten der spinalen Kinderlähmung und der MS. 1930 leitet er die Neurologische Abteilung im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg. 1933 tritt er in die NSdAP ein. 1934 stritt er die Nachfolge Nonnes als planmäßiger Extraordinarius für Neurologie in Hamburg an. Bis mindestens 1940 ist Pette gelegentlicher Gutachter in Sterilisationsverfahren, 1935 wird er Zweiter Vorsitzender der DGN-Vorgängerorganisation GDNP.
Seine Antrittsvorlesung in Hamburg hat den Titel "Ausführungen zur Rolle der Erbbiologie und Eugenik". 1938 auf der Jahresversammlung der GDNP äußert er sich in Vertretung des Vorsitzenden Rüdin wie folgt: "Darum [...] gedenken wir wie stets auch in dieser Stunde dankerfüllten Herzens des Mannes, der mit fast übermenschlicher Energieentfaltung Deutschland zu der Höhe geführt hat, auf der wir heute stehen. Wir sind fester denn je davon überzeugt, dass er […] der Medizin neue unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten geben wird. Ich bitte Sie, sich zu erheben und unseres großen Führers zu gedenken. Unser Führer und Reichskanzler, Adolf Hitler, Sieg Heil!" 1945 wird er auf Anordnung der Britischen Militärregierung seines Amtes enthoben, 1946 folgt seine Wiedereinsetzung.
Das Bild Pettes bleibt ein Mosaik mit mehreren Facetten, betont Fangerau. So rechtfertigte sich Pette nachträglich im Entnazifizierungsverfahren. Sein Sohn verweist auf mehrere einschlägige Briefpassagen in Briefwechseln zwischen Edith und Heinrich Pette zwischen 1941 und 1943, die überraschend offene Kritik am Krieg, an den Lebensumständen, BDM, HJ, Rassenhygiene, der Gestapo enthalten. Auch gibt es keinen Nachweis, dass er an der Euthanasie beteiligt war. Die Einschätzung der Quellen und ihrer Kritik bleibt schwierig, so Fangerau.
Referenzen:
Neurowoche 2018. 91. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 44. Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie, 68. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie, 30. Oktober bis 3. November 2018.