Der Skandal um manipulierte Patientendaten an der Uniklinik Göttingen erschütterte das Vertrauen in die Organspende. Politik und Ärzteschaft waren gleichermaßen entsetzt, als im Sommer 2012 bekanntwurde, dass ein Leberchirurg seine Patienten auf dem Papier kranker gemacht haben soll, als sie waren, um schneller an Spenderorgane zu kommen. Seit August 2013 steht der 47-jährige Medizinprofessor vor Gericht. Ihm wird versuchter Totschlag in elf und Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen vorgeworfen. Nach mehr als 60 Verhandlungstagen soll an diesem Mittwoch (6. Mai) das Urteil gefällt werden.
Schon vor dem Start des Mammutprozesses und unabhängig von dessen Ausgang hat der Göttinger Skandal eine Reihe von Reformen bewirkt. Unter anderem entscheidet heute ein Team, und nicht mehr nur ein einzelner Arzt, welcher Patient für die Organ-Warteliste der zentralen Vermittlungsstelle Eurotransplant gemeldet wird.
Der Vorsitzende der Ständigen Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer, Hans Lilie, ist überzeugt: “Die Reformen haben auch eine Abschreckungsfunktion. Kein Chirurg wird mehr Manipulationen wagen. Er würde damit das Leben der Patienten aufs Spiel setzen. Er weiß auch, dass damit seine Karriere zu Ende wäre.”
Eine Prüfungs- und Überwachungskommission von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen kontrolliert seit Aufdeckung der Tricksereien alle deutschen Leber-, Herz- und Nierenzentren. Bis zum Sommer wird dies für die Jahre 2010 bis 2012 abgeschlossen sein. Bei den Kontrollen kamen Unregelmäßigkeiten an Kliniken in München und Leipzig sowie zuletzt am Berliner Herzzentrum ans Licht.
Der Göttinger Prozess könnte richtungsweisend für Verfahren andernorts sein. Der Ausgang ist völlig ungewiss: Während die Staatsanwaltschaft acht Jahre Haft für den ehemaligen Leiter der Göttinger Transplantations-Chirurgie forderte, plädierte die Verteidigung auf Freispruch. Der 47-Jährige streitet die Vorwürfe ab.
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, hält die Reformen im Transplantationssystem allerdings für nicht weitreichend genug. “So gibt es für Patienten keinen verbindlichen Rechtsweg, um Wartelisten-Entscheidungen überprüfen zu lassen”, kritisiert der Patientenschützer. Brysch fordert eine offene Diskussion über die Probleme, um das Vertrauen in die Organspende zurückzugewinnen.
Infolge des Skandals brachen die Spenderzahlen dramatisch ein. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) gab es 2012 bundesweit 1046 Organspenden. 2013 waren es nur noch 876, im vergangenen Jahr 864 – jeweils ohne Lebendspenden. Im ersten Quartal dieses Jahres gibt es laut DSO erstmals wieder einen leichten Anstieg der Spenderzahlen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Bundesweit warteten Ende April 10 461 Menschen in Deutschland auf ein lebensrettendes Organ.
DSO-Vorstand Axel Rahmel hofft, dass der positive Trend bei den Organspenden auch nach dem Göttinger Urteil anhält. “Unsere Sorge ist, dass – unabhängig vom Ausgang des Prozesses – die Berichterstattung zu einer erneuten Verunsicherung der Bevölkerung und in den Spenderkrankenhäusern führen könnte.”
Text: dpa /fw