Als der Arzt Tipu Sultan im vergangenen Monat eine Lösegeldforderung von umgerechnet 470 000 Euro erhielt, da konnte er sich kaum mehr wirklich wundern. “Fast alle leitenden Ärzte an den Krankenhäusern dieser Stadt haben diese Art von Erpressungsversuchen erlebt”, sagt der 69 Jahre alte Anästhesiologe aus der im Süden gelegenen Metropole Karachi. “Wir haben auch schon Briefe mit Patronen darin erhalten.”
Dass es keineswegs bei Drohungen bleibt, zeigt die Erhebung der Nationalen Ärztekammer. Demnach wurden seit 2006 mindestens 160 pakistanische Ärzte getötet. Die meisten von ihnen in Karachi in der Provinz Sindh sowie in Quetta, Hauptstadt der südwestlichen Provinz Baluchistan. Von rund 175 000 registrierten Ärzten “sind nur (noch) 30 000 bis 40 0000 in Pakistan”, weiß Sultan, der an Karachis Civil Hospital arbeitet.
Offizielle Zahlen, wie viele der registrierten Mediziner noch im Land arbeiten oder dieses bereits verlassen haben, liegen zwar nicht vor. Allerdings macht eine Zahl – erhoben von der Vereinigung junger Mediziner – das Ausmaß des Exodus deutlich: Demnach sind mehr als die Hälfte aller Spezialistenstellen in pakistanischen Kreiskrankenhäusern unbesetzt.
Ärzte sind regelmäßig das Ziel von Entführern, die es auf Löse- und Schutzgeld abgesehen haben. Gründe dafür dürften der relative Wohlstand der Mediziner sowie ihr vergleichsweise geringer Schutz sein.
Hunderte Ärzte sind bereits Opfer von Entführungen geworden, Tausende haben nach Berichten aus Sicherheits- und Medizinerkreisen Schutzgeld bezahlt. Allein in Baluchistan wurden laut der örtlichen Medizinervereinigung seit 2008 mehr als 50 Ärzte und Medizinprofessoren entführt. “Die meisten sind wieder zurückgekehrt, nachdem sie einen großen Betrag an Lösegeld bezahlt haben”, sagt Aftab Kakad, leitender Arzt in Quetta.
Tipu Sultan, der seit 38 Jahren als Arzt arbeitet, hat noch nie bezahlt. Doch die persönlichen Vorkehrungen hat er sehr wohl verstärkt. Seit vergangenem Jahr reagiert er nicht mehr auf unbekannte Anrufer und sorgt dafür, nicht immer zu denselben Zeiten unterwegs zu sein, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Zudem hat er einen bewaffneten Wachmann engagiert.
Neben der Kriminalität spielen manchmal auch religiöse und ethnische Hintergründe eine Rolle bei der Gewalt gegen die Ärzte. Und weil die Täter selten gefasst werden, stimmen die Mediziner mit den Füßen ab. Die pakistanische Kommission für das Hochschulwesen schätzt, dass etwa 1500 Ärzte jedes Jahr das Land verlassen, um andernorts zu arbeiten oder sich weiterzubilden. 90 Prozent von ihnen kehren nicht zurück.
“Wir steuern nicht auf eine Katastrophe zu, das ist bereits eine Katastrophe”, sagt der 69-Jährige. Die Sicherheit und der Schutz der eigenen Familie sind dabei nur ein Grund für die Emigration. Nicht zu vernachlässigen ist, dass die Gehälter in Übersee bis zu zehn Mal höher sein können. Besonders viele pakistanische Ärzte haben dabei eine Anstellung in der Golfregion, den USA und Großbritannien gefunden.
Der Arzt Sultan lässt keinen Zweifel offen, wen er in erster Linie für den dramatischen Verlust von Fachkräften verantwortlich macht. “Wir hatten drei Diktatoren und drei demokratische Regierungen in den vergangenen 60 Jahren. Keiner von denen hat je dem Gesundheitswesen Vorrang gegeben”, sagt er.
Text und Foto: dpa /fw